Tokio
Kritik

Tokio! (2008) – Review

Mit der multinationalen Anthologie Tokio! entsteht ein Triptychon aus Kurzfilmen in der titelgebenden Großstadt zwischen Selbstfindung und zwischenmenschlichen Beziehungen.

Originaltitel: Tokyo!
Land: Frankreich/Japan/Südkorea/Deutschland
Laufzeit: 107 Minuten
Regie: Michel Gondry, Leos Carax, Bong Joon-ho
Drehbuch: Michel Gondry, Gabrielle Bell, Leos Carax, Bong Joon-ho
Cast: Ayako Fujitani, Denis Lavant, Teruyuki Kagawa u.a.
VÖ: ab 11.03.2021 fürs Heimkino

Inhalt

Umrahmt von einer kurzen Sequenz, in der eine Flugbegleiterin aus dem Off die Landung auf Tokio ankündigt, bietet der Film drei verschiedene Geschichten aus der schnelllebigen Metropole. „Interior Design“ beschäftigt sich mit dem Leben eines jungen Pärchens (Ayako Fujitani und Ryo Kase) mit all seinen Tücken. Neben Wohnungssuche, schwindenden Karrierechancen und strapazierten Freundschaften ist es insbesondere Hiroko, die nach einem Zweck in ihrem Leben sucht und schließlich auch äußerlich eine erschreckende Metamorphose durchmacht. In „Merde“ lebt in den Abwasserkanälen Tokios ein seltsam anmutender Mann (Denis Lavant), der nur an die Oberfläche kommt, um die Bewohner:innen der Stadt zu terrorisieren. Bei seiner Verhaftung ist er nicht in der Lage, mit den anwesenden Personen zu kommunizieren – nur der mysteriöse Anwalt Voland (Jean-François Balmer) scheint seine Sprache zu sprechen. Im Zentrum der abschließenden Geschichte „Shaking Tokyo“ steht ein Hikikomori (Teruyuki Kagawa), der seine Wohnung seit zehn Jahren nicht verlassen hat und nicht einmal den Lieferant:innen seines Essens in die Augen schaut. Das ändert sich jedoch, als er die Bekanntschaft einer jungen Frau macht und es buchstäblich zu einem Erdbeben der Gefühle kommt.

Kritik

Bereits 2008 entstand mit Tokio! eine filmische Kooperation zwischen den beiden französischen Regisseuren Michel Gondry und Leos Carax, sowie dem Südkoreaner Bong Joon-ho, die sich jeweils durch den Blick eines Außenstehenden mit der weitläufigen Metropole auseinandersetzen. Mit den bekannten Stadtbildern hat der Film allerdings wenig zu tun, vielmehr ist Tokio! daran interessiert, Orte zu erkunden, die normalerweise nicht auf den Reiserouten von Touristen stehen – die winzigen Lücken zwischen den Gebäuden, den unterirdischen Kanälen und den Grenzen des Hauses.

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Ohne große Exposition werden die Zuschauenden in die von Michel Gondry adaptierte Geschichte gestoßen. Die Vorlage „Cecil and Jordan in New York“ stammt von der britisch-amerikanischen Cartoonistin Gabrielle Bell, die in ihren Kurzgeschichten das Leben der New Yorker Großstädter beleuchtet. Gondry verlegt den Spielort und schildert in ruhigen Bildern die Suche zweier Menschen nach Sinn und Zweck des Lebens in einer Gesellschaft, in der ein Stuhl nützlicher zu sein scheint als die Person, die auf ihm sitzt. Gondry trifft die richtigen Töne, wenn er die verzweifelte Wohnungsnot und den beengten Raum zeigt, der vielmehr für schleichende Entfremdung als für Verbundenheit sorgt. Es scheint nur logisch, dass Protagonistin Hiroko eine bizarre Transformation durchläuft, um schließlich der Realität zu entkommen und den Sinn zu erlangen, nach dem sie sich sehnt. Trotz surrealer und fast schon melancholischer Konnotation geschieht der Wechsel zur Metapher aber zu plötzlich und wenig subtil.

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Brachialer wird es in Carax Geschichte über einen Mann, der wie ein Monster die Straßen Tokios unsicher macht. Es ist kein Zufall, dass sich der Regisseur der Soundeffekte und Narration aus Ishirō Hondas Klassiker Godzilla bedient, wodurch der Film eine ähnliche Textur wie die Kaiju-Filme erhält. Auch der Unbekannte gilt in der öffentlichen Meinung als Monstrosität und seine Sichtungen werden mit Sensationslust von den Medien verfolgt. Verschiebungen weg vom japanischen Creature Feature ergeben sich durch den Einsatz eines Gerichtsverfahrens statt einer militärischen Lösung und der Bedrohung für die gesamte Bevölkerung. Es ist nun nicht mehr die atomare Gefahr von außen, sondern es sind innere Vorgänge – Nationalismus und Terrorismus, aber auch die Verdrängung der eigenen Vergangenheit – die unter der fragilen Oberfläche schlummern. Die Kombination aus verschiedenen Referenzen ermöglicht einen Blick auf mögliche Vorstellungen Japans, angereichert mit zu hinterfragenden Stereotypen, die laut filmischem Subtext durch sprachliche und kulturelle Barrieren entstanden sind. Ein komplexer Prozess aus Übersetzung und Wiederholung ist erforderlich, damit sich nicht nur die Figuren untereinander verstehen, sondern auch die Zuschauenden wiederum die Figuren. Zumindest teilweise schildert Carax die Schwierigkeit, andere zu verstehen und fremde Denkprozesse zu erfassen, die grotesk oder ungewöhnlich erscheinen. Trotz dieser zahlreichen Versatzstücke leidet der Kurzfilm aber unter den Ambitionen des Regisseurs, der es am Ende nicht schafft, seine vielfältigen allegorischen Ideen zu Ende zu bringen.

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Obwohl auch die ersten beiden Geschichten sehenswert sind, wirkt Bong Joon-hos abschließender Beitrag am stärksten in der japanischen Großstadt verankert, nicht zuletzt durch die Erdbeben-Thematik und das spezifische Phänomen der Hikikomori. Eine Bezeichnung für Menschen, in deren Mittelpunkt der völlige Rückzug aus der Gesellschaft und das Streben nach extremer sozialer Isolation steht, wobei Bong Wert auf Charakter statt auf Spektakel legt. Der Film profitiert von der anfänglichen Einfachheit, in dem er sich auf den Protagonisten und dessen Alltag konzentriert und somit eine tiefere viszerale Wirkung hinterlässt als seine Vorgänger. Die Bilder sind kraftvoll und stützen sich oft auf visuelle Assoziationen, um die Geschichte zu erzählen, beispielsweise die Symbolik des Erdbebens, das die Welt der Protagonist:innen buchstäblich erschüttert. Der Film ist eine zurückhaltende Untersuchung der Isolation und Trennung von Menschen, die in einer großen, unpersönlichen Stadt leben. Es ist ein beängstigendes Portrait davon, wie eine Gesellschaft ohne Gesellschaft aussehen könnte.

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Fazit

Die Anthologie Tokio! präsentiert drei verschiedene Visionen von Japans schillernder Metropole, die einen interessanten Einblick in das Leben verschiedener Menschen geben. Alle Kurzfilme stehen auf solidem Fundament, wobei insbesondere die fantasievollen und emotionalen Aspekte über manche Schwächen hinwegtrösten. Tokio! ist als nationenübergreifende Kooperation inszenatorisch zwar nicht so stark wie seine Vorläufer Three… Extremes oder Eros, aber immer noch ein sehenswerter Anthologie-Beitrag.

 

Bewertung

Grauen Rating: 1 von 5
Spannung Rating: 2 von 5
Härte rating0_5
Unterhaltung  rating3_5
Anspruch rating3_5
Gesamtwertung rating3_5

ab 11.03.2021 im Handel:

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Bildquelle: Tokio! © Koch Films

Horrorfilme… sind für mich eine Möglichkeit, Angstsituationen zu erleben, ohne die Kontrolle zu verlieren. Es ist eine positive Art der Angst, da sich ein Glücksgefühl einstellt, sobald man die Situation durchgestanden hat. Es ist nicht real – könnte es aber sein. Das ist furtchteinflößend und gleichzeitig faszinierend.

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