Kritik

The Wild Boys (2017) – Review

Neues aus dem Hause Bildstörung: Kurz nach der kauzigen deutschen Produktion Luz, legt das Label mit The Wild Boys einen weiteren europäischen Independentstreifen nach. Regisseur Bertrand Mandico entführt uns ins Frankreich des frühen zwanzigsten Jahrhunderts, wo wir mit der Krankheit einer dekadenten, enthemmten Jugend und einer perfiden Heilung für diese konfrontiert werden. Die See ruft und so folgen wir dem Kapitän und seiner unfreiwilligen Crew an Bord und lauschen der Geschichte von Tanguy und den wilden Jungs.

Originaltitel:
Land:
Laufzeit:
Regie:
Drehbuch:
Cast:

Les garçons sauvages
Frankreich
110 Minuten
Bertrand Mandico
Bertrand Mandico
Anael Snoek, Sam Louwyck, Elina Löwensohn u.a.

Inhalt

Tanguy (Anaël Snoek, Cannibal) und seine Gefährten Romuald (Pauline Lorillard), Jean-Louis (Vimala Pons, Eden Log), Humbert (Diane Rouxel) und Sloane (Mathilde Warnier) sind unzertrennlich. Ihre Spiele entbehren jedoch der Leichtigkeit der Jugend. Als sie eines Tages ihre Literaturlehrerin vergewaltigen und ermorden, werden sie als letzter Ausweg dem Kapitän (Sam Louwyck, Der Tod weint rote Tränen) anvertraut, einem bärbeißigen Belgier, der eine effektive Lösung für solcherlei Gebaren kennt: Die Arbeit auf See soll sie in lammfromme Gesellen verwandeln. Die Seereise führt die Bande auf eine unbekannte Insel, die den bizarren Albträumen einer wahnsinnigen Gottheit zu entstammen scheint. Doch welche Gefahren erwarten die Boys in den fiebrig-schwülen Wäldern, voll unbekannter aber merkwürdig sinnlicher Vegetation? Und was hat es mit den seltsamen haarigen Früchten auf sich, die sie seit Wochen zu essen bekommen

Kritik

Regisseur Bertrand Mandico ist bisher vor allem mit Kurzfilmen und Musikvideos für die Elektroband „M83“ in Erscheinung getreten, in denen sich jedoch bereits jener prägnante Stil abzeichnet, der auch sein Spielfilmdebüt zu einem außergewöhnlichen Erlebnis macht.

The Wild Boys erzählt zunächst auf geradlinige Weise eine Geschichte, die sich erstaunlich gut als klassischer Abenteuerfilm à la Die Fahrten des Odysseus und ähnlicher Monumentalfilme gemacht hätte: das Motiv der Seefahrt, die geheimnisvolle Insel, auf der natürliche Gesetzmäßigkeiten nicht mehr zu gelten scheinen, und nicht zuletzt die Begegnung mit der/dem mysteriösen Dr. Severin(e) (Elina Löwensohn, Dunkle Triebe), welche*r die Insel bewohnt und eine ganz eigene Agenda mit den Jungen verfolgt. All diese Narrative scheinen direkt einer archaischen Mythenwelt zu entstammen und sieht man The Wild Boys auf diese Weise, zeigt sich schnell, wie sehr der Film auf versteckte Bedeutungen und subtile Symbolik setzt.

So entspannt sich neben der Haupthandlung eine zweite Erzählung, die sich hinter den sichtbaren Formen immer wieder schemenhaft abzeichnet. Als Auslöser der Handlung fungiert eine soziale Grenzüberschreitung in der realen Welt, doch betreten die Protagonisten beim Antritt ihrer Reise mit dem Kapitän eine Zwischenwelt. Das Schiff, wie auch das Meer selbst, werden zu Metaphern eines Dazwischen, eines Schwellenübertritts, eines Zustands der Transformation. Diese manifestiert sich in der Geschichte am Körper der Jungen selbst, sobald sie die fremde Welt, das kaleidoskopische Traumland am Ende der Reise erreichen. Doch der Aufenthalt im scheinbaren Paradies hat seinen Preis, denn hier ist nichts wie es scheint. Und die Jungen um Tanguy erfahren die erschreckende Macht der Insel buchstäblich am eigenen Leib.

Der Kapitän wird in diesem Symbolensemble zum Fährmann, dem Hüter des Wissens um die Passage. Zum Charon der zugleich in allen Welten zu Hause ist, aber doch zu keiner so richtig gehört. Am deutlichsten wird seine Zwischenposition anhand der einzelnen weiblichen Brust. Diese Dekonstruktion der – insbesondere geschlechtlichen – Identität ist das zentrale Motiv des Films. Augenscheinlich wird dies bei der konsequenten Besetzung der Bande um Tanguy mit Schauspielerinnen sowie der Verwandlung der Jungen in Frauen. Das Spiel mit dem Geschlecht bildet eher den Rahmen, ist aber selbst nur Statthalter für ein größeres Plädoyer. Es ist eben nicht die abgeschlossene Transformation, die im Zentrum steht, sondern der Weg dahin.

Nirgends wird dies so deutlich wie in der Rolle des stillen (Anti-)Helden Tanguy. Nicht mehr ganz Mann, aber noch nicht ganz Frau, findet sich hier das einzige Gruppenmitglied, das auch eine charakterliche Wandlung durchmacht. Die Anderen bleiben nach der Verwandlung genauso dekadent, gewalttätig und moralisch verwahrlost wie zuvor. Einzig Tanguy, nicht eindeutig zwischen den Polen verortbar, wird heimisch im Nicht-Heimischen, Unheimlichen. Nicht ohne Grund nimmt Tanguy die Mütze des Kapitäns als Insignie und damit den frei gewordenen Platz an Bord ein. Was Mandico zeichnet ist eine Ode an die Hybridität, jenseits polarisierender Zuschreibungen und daraus resultierender Zwänge. Die Möglichkeiten des dritten Raumes, der sich an der Grenze von Realität und Traum eröffnet, scheinen so grenzenlos wie der Film selber.

Dieses Verschwimmen wird auch auf der visuellen Ebene eindrucksvoll umgesetzt. The Wild Boys ist überwiegend in Schwarz-Weiß gehalten. Die wenigen Brüche mit diesem Farbmodus markieren zentrale Passagen, visualisieren aber auch das Spiel mit den Grenzen. Hervorzuheben ist auch das Szenenbild. Gerade die Insel, auf der alles von einer seltsamen Lebenskraft durchdrungen ist, bildet einen kaleidoskopischen Malstrom der Sinnlichkeit, in dem sich jede Pflanzenranke und jeder Zweig auf laszive Art zu wiegen scheinen und alles mit ihrem Stöhnen erfüllen. Wie die Anderswelt der Feenmärchen erscheint die Insel mit ihren seltsamen Klängen und der auffällig phallischen Vegetation. Ein Schlaraffenland, in dem man den erregenden Saft der Pflanzen in seinen Mund rinnen lässt und die berauschende Fauna selbst andere Lüste zu befriedigen weiß. Die sexuelle Thematik ist dabei so ästhetisch inszeniert, dass Assoziationen mit Schmuddelgrößen wie Jean Rollin oder Jess Franco gar nicht erst auftreten. Auch der angenehme Synthwave-Vibes verstömende Score fügt sich wunderbar in die Kulisse ein und windet sich lüstern durch die Gehörgänge bis in die letzte Gehirnwindung hinein.

Fazit

The Wild Boys bindet ein vorzügliches Bouquet aus surrealen, mythischen Motiven, lasziv-wabernder Atmosphäre und einer faszinierenden Geschichte. Das Spiel mit den Grenzen, das Mandico kreiert, verbindet sich zu einem knapp zweistündigen psycho-sexuellen (Horror-)Trip, der den Zuschauer mit mesmerisierender Kraft in seine Welt hineinzieht – eine Welt, die man mit Sicherheit noch lange nach Ende des Films mit sich herumträgt.

Bewertung

Grauen Rating: 2 von 5
Spannung Rating: 3 von 5
Härte  Rating: 2 von 5
Unterhaltung  Rating: 4 von 5
Anspruch  Rating: 5 von 5
Gesamtwertung Rating: 4 von 5

Seit 25.10.2019 als DVD und Bluray im Handel:

Bildstörung veröffentlicht The Wild Boys auf DVD und Blu-ray.
Bonusmaterial:

  • Kurzfilm DEPRESSIVE COP (2016, 12 Minuten)
  • Kurzfilm ANY VIRGIN LEFT ALIVE? (2015, 9 Minuten)
  • Kurzfilm OUR LADY OF HORMONES (2014, 31 Minuten)
  • Kurzfilm PREHISTORIC CABARET (2013, 10 Minuten)
  • Behind the Scenes (11 Minuten)
  • Deleted Scenes (17 Minuten)
  • Booklet
The Wild Boys

Bildquelle: The Wild Boys © Bildstörung

Horrorfilme… sind für mich das Erkennen, Überschreiten und Herausfordern von gesellschaftlichen Grenzen durch abgründige Ästhetik und damit Kunst in ihrer reinsten Form. Vor allen Dingen machen sie aber einfach unfassbar Spaß.

...und was meinst du?