Kritik

Carmilla (2019) – Review

Ohne Carmilla gäbe es keinen Dracula: Mit der Neuverfilmung des Vampir-Stoffs von Sheridan Le Fanu aus dem Jahr 1872, holt Regisseurin Emily Harris zu einem schockierend-erotischen Schlag in die Magengrube aus.

Originaltitel: Carmilla
Land: Großbritannien
Laufzeit: 96 Minuten
Regie: Emily Harris
Drehbuch: Emily Harris
Cast: Devrim Lingnau, Hannah Rae, Jessica Raine u.a.
VÖ: Ab 23.04.2021 auf DVD und Blu-ray

Johann Wolfgang von Goethe öffnete mit „Die Braut von Korinth“ einst das Tor zu einer literarischen Welt, die den Sterblichen bis dahin verwehrt gewesen war. Einer Welt am Abgrund oder wie Sheridan Le Fanus Figur der Carmilla sie beschreibt: die Wüste öder Ewigkeiten. Ins Visier des Poeten gerieten das angespannte Verhältnis zwischen religiöser Moral und Geschlechtlichkeit, die in einem christlichen Wertekanon keinen Platz hatte und verleugnet wurde.

75 Jahre nach Goethe und 25 Jahre vor Bram Stokers „Dracula“ verstörte Le Fanus viktorianische Novelle „Carmilla“ mit einer für jene Zeit skandalösen erotischen Darstellung mit klaren Bezügen zum Vampirismus und zur weiblichen Homosexualität. Der Roman des irischen Autors erschien zunächst in drei Teilen und anschließend als Sammelband – die Geschichte spielte dabei ursprünglich in der österreichischen Steiermark, im Film wurde der Schauplatz auf die britischen Insel verlegt.

Der Teufel in ihr

Die 15-jährige Lara (Hannah Rae, Broadchurch) ist eine wissbegierige junge Frau, die mehr über das Leben – und auch alles, was danach mit Körper und Seele passiert – wissen will. Ein eingängiges Studium der menschlichen Physiognomie bleibt ihr jedoch verwehrt. Denn mit der Beständigkeit eines Taktstock, der aufs Klavierholz klopft, stolziert die Gouvernante Miss Fontaine (Jessica Raine, Die Frau in Schwarz) hinter ihr auf und ab und so bleibt es nicht lange geheim, dass Lara ihre Nase in die medizinischen Bücher ihres Vaters gesteckt hat. Die Folgen ihrer Neugierde brennen sich daraufhin auch in den eigenen Körper ein – durch die Peitschenhiebe der Gouvernante.

Als eine mysteriöse rothaarige Frau (ganz toll: Devrim Lingnau) nach einem Unfall bei ihnen aufgenommen wird, ändert sich alles: Lara blüht auf und gibt der zunächst apathischen Gleichaltrigen, die sich nicht an die Vergangenheit zu erinnern scheint, sogar ihren Namen: Carmilla. Doch nicht nur Carmillas Name ist menschgemacht, sie selbst ist das Resultat einer Gruselgeschichte, die sich die Menschen über Jahrhunderte weitererzählt haben: das personifizierte Begehren. Viele sehen in ihr den Teufel. Für Lara hingegen ist Carmilla ein Segen: Sie ist geheimnisvoll, eine Aura der Dunkelheit umgibt sie und nicht nur die Tiere scheinen sich vor ihr zu fürchten. Und obwohl ihr der Atem des Todes vorauseilt, ist sie es, die Lara neues Leben einhaucht.

Angst vor der Schönheit

Carmilla ist eine Erzählung, in der es um Tabubrüche und die Möglichkeit geht, sich einer in Stein gemeißelt erscheinenden Zukunft zu entziehen. „Ein Teil der Blume muss sterben, damit der Rest zu einer neuen Frucht wird“, sagt Miss Fontaine, während sie beständig versucht, von außen zu Lara vorzudringen. Doch die geheimnisvolle Carmilla ist es, der es gelingt, ihr Herz mitsamt der roten Flüssigkeit, die dieses Organ durch Laras Körper pumpt, zu gewinnen. Es ist schockierend, zugleich aber sehr romantisch, mitanzusehen, wie die Vampirin diesen folgenschweren Eingriff (diejenigen, die den Film gesehen haben, wissen, wovon die Rede ist) am Körper der Jungfrau vornimmt: Besonders schön sind die unverblümten Einblicke in das Seelenleben der beiden, wenn sie voneinander träumen, sich aneinanderschmiegen und sich alle Geheimnisse erzählen, die sie selbst nicht begreifen wollen.

Einerseits ist Carmilla ein Nachzehrer, ein Wiedergänger, der mit innerlicher Unerschütterlichkeit an den Adern Laras saugt. Sie glaubt an die Wüste öder Ewigkeiten – sie weiß, dass die anderen glauben, sie sei der Teufel. Doch Regisseurin Emily Harris geht in ihrem Erstlingswerk so sensibel vor, dass jeder so stimmungsvoll ins Szene gesetzter Moment des Entsetzens im selben Augenblick beruhigend wirkt.

Dem Tod und dem Leben nah

Die Chemie zwischen den beiden Hauptdarstellerinnen lässt die Leinwand knistern und macht den Film erst so richtig zum Erlebnis: Obwohl die Blicke, die sie austauschen, zunächst durch harte Schnitte getrennt sind, verbindet beide ein anschwellendes Band aus Fleisch und Blut, das aus der Leinwand gleichsam herausquillt. Jedes Bild, jedes Moment und jede Komposition kündet von dieser Verbundenheit, huldigt dem Originaltext und beleuchtet das Verlangen, dem sich beide nur zu gern hingeben würden – wäre da nicht jene Scheinmoral, der geschlechtliches – insbesondere gleichgeschlechtliches – Verlangen verdammt.

Die Gouvernante hat demgegenüber einen ganz eigenen Kampf zu führen. Ausgeschlossen aus der Zweisamkeit, erweckt sie in jedem Moment ihrer gelebten Prüderie das Gefühl, sie hätte in ihrer Jugend jene pulsierende Freude, die man nur zu zweit erleben kann, zwar erfahren, jedoch nicht zu Ende gelebt. Die eine, zweieinige Welt ist herzerwärmend und das Resultat der Kollision mit der anderen herzzerreißend. Carmilla, stellenweise so blutig und düster, ist ein Film der scheinbaren Antithesen, die sich am Ende von Harris zu einem Konglomerat vermengen lassen – das Ergebnis ist in dieser Form recht einzigartig.

Der Film ist mit seinen sinnlich-sexueller Wegmarken in Verbindung mit dem Tod als Person klar dem Genre des Gothic-Horrors zuzuordnen und vermittelt auch knapp 150 Jahr nach dem Erscheinen des Romans dessen Kernelemente: Carmilla ist stellenweise unfassbar erotisch, betörend und schockierend – die beiden Figuren gleiten dabei mit einem Selbstverständnis durch den Film, dass der Gedanke einer Überinszenierung erst gar nicht in den Sinn kommt. Es sind dabei vor allem die Hauptdarstellerinnen, die in jene berauschende Gefühlswelt einführen. Beide zeigen anmutig und leidenschaftlich, was es heißt, im 18. Jahrhundert am Leben sein zu wollen.

Bewertung

Grauen Rating: 3 von 5
Spannung Rating: 3 von 5
Härte  rating4_5
Unterhaltung Rating: 2 von 5
Anspruch  Rating: 3 von 5
Gesamtwertung Rating: 3 von 5

Bildrechte: Carmilla © Busch Media Group

Horrorfilme…legen das Verborgene offen. Sie bieten dem Unbewussten, dem Verdrängten, der Angst und allem, was einem intuitiv zuwider scheint, eine Bühne und leisten dabei einzigartiges: Der Schrecken wird ansehnlich, das Böse wird schön und das Ungreifbare wird greifbar. Für mich ist der Horror ein wunderbares Genre, das in der Masse geradezu lächerlich unterschätzt wird.

...und was meinst du?