Abgründe

Heldenhaftes Blutvergießen – Kimchi & Kadaver

Wilde Schießeren und krasse Typen – Heute dreht sich bei Kimchi & Kadaver alles um das Genre Heroic Bloodshed aus Hongkong.

Anfang der 2000er-Jahre bekam ich einen alten Karton mit diversen Videokassetten von einem älteren Punk und Filmfan aus dem Dorf, dessen Inhalt meinen Filmgeschmack nachdrücklich veränderte. Bis zu diesem Zeitpunkt, ich war 14 Jahre alt, hatte ich zwar bereits den einen oder anderen Horrorfilm gesehen und auch meine Eltern waren in dieser Hinsicht sehr liberal, sodass ich viele Krimis, Thriller oder Abenteuer- und Actionfilme der letzten Jahrzehnte, die eine höhere Jugendfreigabe erhielten als ich Lebensjahre zählte, sehen durfte. Neben einigen US-amerikanischen Filmen aus den 1980er- und 1990er-Jahren waren auch ein paar internationale Kassetten von Filmen aus Hongkong und China dabei. Der Großteil waren alte Kung-Fu-Filme, ein paar mit Jackie Chan und drei Filme von John Woo: Heroes Shed No Tears, Bullet in the Head und City Wolf II – Abrechnung auf Raten. Die beiden letzten Filme gehören außerdem zum Action-Subgenre „Heroic Bloodshed“, das seine Wurzeln in Hongkong hat. Allerdings gibt es mittlerweile auch westliche Filmproduktionen, die dem Genre nahestehen, z. B. The Departed, Martin Scorseses Remake von Andrew Laus und Alan Maks Infernal Affairs, Luc Bessons Léon – Der Profi oder auch Chad Stahelskis John Wick. Jedenfalls entwickelte sich bei mir von dem Moment an, als ich City Wolf II – Abrechnung auf Raten mit meinem erst kürzlich verstorbenen Videorekorder abspielte, eine bis zum heutigen Tag andauernde Faszination mit dem Triaden-Milieu, Auftragsmörder*innen und Leslie Cheung.

Leslie Cheung in Once a Thief (1991)

Als ich meine Liebe zu Heroic Bloodshed entdeckte, hatte das Genre natürlich bereits seinen Zenit überschritten, auch wenn heutzutage immer mal wieder Filme aus Hongkong oder China ihren Weg zu uns ins Heimkino finden. Das Genre erlebte genauso wie die CAT-III-Filme ab Mitte der 1990er-Jahre einen drastischen Rückgang, und allgemein befand sich die Filmindustrie Hongkongs von da an im freien Fall. Nicht nur die Einnahmen halbierten sich, sondern auch die Zahl der im Jahr produzierten Filme von einem Höchststand Anfang der 1990er-Jahre von weit über 200 auf etwa 100. Verantwortlich für den Niedergang waren u. a. die Asienkrise, Überproduktion, Videopiraterie und die Wiedereingliederung Hongkongs als Sonderverwaltungszone Chinas. Die Öffnung zum Festland, die mit der Übergabe an China im Juli 1997 einherging, war kein so großer Boom wie erhofft und brachte ganz eigene Probleme mit sich, insbesondere im Hinblick auf die Zensur. 2003 hatte die Branche eines ihrer dunkelsten Jahre. Neben dem anhaltenden Einbruch sorgte ein Ausbruch des SARS-Virus dafür, dass viele Kinos zeitweise praktisch leer blieben und die Filmproduktion vier Monate lang stillgelegt wurde; nur vierundfünfzig Filme wurden gedreht. Die Tode von Leslie Cheung und Anita Mui rundeten die schlechten Nachrichten ab.

Anita Mui, Michelle Yeoh & Maggie Cheung in Johnnie Tos The Heroic Trio (1993)

Once Upon a Time in China

Aber von vorne. Filme aus Hongkong, inklusive des Actionkinos, haben ihre Wurzeln in der chinesischen Kultur, einschließlich der chinesischen Oper, klassischer Literatur und traditioneller Ästhetik. Filmschaffende aus der damaligen britischen Kolonie kombinierten diese Einflüsse mit Elementen aus Hollywood und dem japanischen Kino zu neuen Action-Choreografien und Filmtechniken, um eine kulturell-unverwechselbare Form zu schaffen. Hollywood-Actionfilme wiederum wurden seit den 1970er-Jahren stark von den Genrekonventionen Hongkongs beeinflusst. Bereits seit dem 9. Jahrhundert gibt es geschriebene oder mündlich überlieferte Geschichten von den schillernden Heldentaten einzelner Männer und Frauen, die einerseits den populären Serienroman des 19. Jahrhunderts beeinflussten, die andererseits wiederum den Actionfilm aus Hongkong prägen sollten. Diese Wuxia-Erzählungen berichten über chinesische Schwertkämpfer, Schlachten, Soldaten- und Reiterkämpfe, die überwiegend an historischen oder pseudohistorischen Schauplätzen spielen. Außerdem besitzen die Geschichten stark fantastische Elemente. Der im Wushu, ein Oberbegriff für alle chinesischen Kampfkünste, bewanderte ritterliche Held kämpft rechtschaffen für das Schicksal einer ausgewählten Gruppe von Menschen und nicht unbedingt für die Gesellschaft oder ein abstraktes übergeordnetes Ideal. Er wird von der Loyalität zu seiner Familie oder seinen Mitstreitern innerhalb einer ausgewählten Gruppe angetrieben.

Chinesische Filme basierend auf einer heroischen Tradition gibt es seit den 1920er-Jahren und  bilden die Basis für viele Geschichten über Ritterlichkeit und fantastische Schwertkampf-Filme. Und auch die ersten Actionfilme aus Hongkong bevorzugten den Wuxia-Stil, betonten Mystik und Schwertkampf gleichermaßen, aber dieser Trend wurde in den 1930er-Jahren politisch unterdrückt und durch die populären Kung-Fu-Filme ersetzt, die bodenständigere unbewaffnete Kampfkünste zeigten oft mit Volkshelden wie Wong Fei Hung. Die politischen und kulturellen Umwälzungen der Nachkriegszeit führten zu einer zweiten Welle von Wuxia-Filmen mit mehr Gewalt, gefolgt von den düsteren Kung-Fu-Filmen der Shaw Brothers. Der ritterliche, mitunter eindimensionale Held des frühen 20. Jahrhunderts weicht einem deutlich ambivalenteren Charakter und ähnelt eher den Vigilante-Figuren des US-amerikanischen Kinos der 1970er-Jahre. Der Held bestraft diejenigen, die ihm Unrecht getan haben, ohne sich auf bestehende Gesetze zu berufen. Bei Verrat stürzt er in große Verzweiflung und seine Rache wird schrecklich sein. Ab den 1970er-Jahren, angefangen mit Bruce Lees Kung-Fu-Filmen, bis in die 1990er-Jahre erreichte das Hongkonger Actionkino seinen Höhepunkt. In den 1980er-Jahren dominieren vielmehr komödiantische und abenteuerliche Filme von Sammo Hungs und Jackie Chan sowie historische Martial-Arts-Filme mit Jet Li. Zur gleichen Zeit erschienen andere junge Regisseure auf der Bildfläche und ihre innovative Arbeit brachte weitere Vielfalt in das Genre und es entstanden u. a. Subgenres wie Heroic Bloodshed und die sogenannten Gun-Fu-Filme.

Von Mäusen und Männern

Der Begriff Heroic Bloodshed wurde von dem britischen Fanzine-Redakteur Rick Baker in den späten 1980ern geprägt, mit ausdrücklichem Bezug auf die Stile der Regisseure John Woo und Ringo Lam.

Wie im Genre üblich handeln die sentimentalen Geschichten von gutwilligen Kriminellen, typischerweise handelt es sich um Auftragsmörder, Bandenmitglieder oder Diebe mit einem starken Moralempfinden und Ehrenkodex. Hinzu kommen aufrichtige, hart gesottene Polizisten und nahezu unverwundbaren und weiß gekleideten Triaden-Bossen, die durch bevorzugt halb automatische Waffen ihr Ende finden. Loyalität, Familie und Brüderlichkeit sind die typisch Themen des Genres und die Filme haben im Allgemeinen einen starken emotionalen Aspekt, nicht nur zwischen, sondern auch während der Actionsequenzen. Diese sind meist akrobatischer Natur, was für eine anmutige, ballettartige Darbietung inmitten der Feuergefechte sorgt. In der Tradition alter Heldengeschichten enden die Heroic-Bloodshed-Filme oft mit einer niedergeschlagenen oder tragischen Note, wobei die Protagonisten entweder von der Polizei verhaften werden, schwer verletzt oder tot sind.

Dabei unterscheiden sich die Hongkonger Filme drastisch von den US-amerikanischen Mafia-Filmen aus dieser Zeit. Das ist einerseits den kulturellen Differenzen und andererseits den abweichenden Sehgewohnheiten der jeweiligen Zielgruppe geschuldet. Ich erwähne das hier, da man oft von den Triaden als „chinesischer Mafia“ spricht, diese Bezeichnung allerdings sehr oberflächlich erscheint.

Neben früheren Einträgen in das Genre wie Clarence Foks On the Wrong Track, Coolie Killer von Terry Tong oder Lau Shing-hons The Head Hunter sind insbesondere Tsui Hark und John Woo für den Aufstieg des Genres verantwortlich. Sowohl Tsui Hark als auch John Woo besitzen einen gewissen westlichen Hintergrund. Erstere, in Saigon geboren, wuchs mit seinen 16 Geschwistern erst in Südvietnam und dann in Hongkong auf, wo er auch seine Schulausbildung abschloss. Anschließend studierte er Film in Texas, zuerst an der Southern Methodist University und dann an der University of Texas in Austin, wo er 1975 seinen Abschluss machte. Nach seinem Abschluss zog er nach New York City, wo er an From Spikes to Spindles (1976) arbeitete, einem bekannten Dokumentarfilm von Christine Choy über die Geschichte der Chinatown der Stadt. Er arbeitete auch als Redakteur für eine chinesische Zeitung, baute eine kommunale Theatergruppe auf und arbeitete bei einem chinesischen Kabelfernsehsender. 1977 kehrte er nach Hongkong zurück.

John Woos Familie hingegen floh Anfang der 1950er-Jahre wie viele andere chinesische Staatsangehörige kurz nach der kommunistischen Revolution nach Hongkong. Im Gegensatz zu Tsui Hark war seine Kindheit geprägt von Armut, Obdachlosigkeit, Kriminalität und der Tuberkulose-Erkrankung seines Vaters. Bis zum 16. Lebensjahr besuchte er die Schule, die ihm von einer US-amerikanischen Familie über eine hiesige lutherische Kirche finanziert wurde. Indem er selbst seine Jugend als hin- und hergerissen zwischen Gewalt und Glauben darstellt, verarbeitet er beides oftmals als zentrales Motiv seiner Filme.

Mitte der 1980er-Jahre beschlossen Tsui Hark und John Woo Patrick Lungs Klassiker The Story of a Discharged Prisoner von 1967 über einen entlassenen Häftling neu zu verfilmen. City Wolf oder besser bekannt als A Better Tomorrow ist nicht nur einer der bekanntesten Vertreter des Genres, sondern bringt dieses auch buchstäblich ins Rollen. Der Film belebte auch die Karriere von Ti Lung, dem Star vieler Schwertkampffilme von Zhang Che, und machte Chow Yun-fat zu einem der beliebtesten Schauspieler der damaligen britischen Kolonie. In ganz Asien kopierten Männer Chows Look: langer Mantel, dunkle Brille, Streichholz zwischen mürrischen Lippen. Und City Wolf entfaltet seine visuellen Ideen mit beispielloser Geschmeidigkeit und emotionaler Kraft.

Woos hemmungsloser Ansatz – nicht nur die straff choreografierten Feuergefechte, sondern auch der gefühlvolle Austausch zwischen den städtischen Kriegern, die in Pflicht und Freundschaft verbunden sind – war untypisch für die lokale Industrie. Woos hyperstilisierte, aufopferungsvolle Ritter sind natürlich weit entfernt von der Realität, auch wenn einige Triade-Mitglieder begannen, Chows Stil zu imitieren, und weniger bodenständig als beispielsweise die Figuren in Ringo Lams Filmen. Mir persönlich gefallen die tränenreichen, mitunter homoerotischen Beziehungen zwischen den Protagonisten und diese hemmungslose Wildheit in Woos Filmen, die in westlichen Genrefilmen kaum zu finden ist. Nationale Kritiker*innen sahen in Woos Filmen eine Modernisierung der romantischen, gewalttätigen Kampfkunsttraditionen der 1960er-Jahre. The Killer (1989) leiht sich beispielsweise viel aus der älteren Schwertkampfliteratur und Woo orientiert sich stark an seinem Mentor Chang Cheh (Die tödlichen Fäuste der Shaolin) und Regisseur Chu Yuan (Das Todesduell der Tigerkralle). Und auch in weiterentfernten Quellen fand Woo seine Inspiration. Als junger Mann bewunderte er Akira Kurosawa und japanische Gangsterfilme und verarbeitete auch westliche Einflüsse wie etwa die Zeitlupengewalt von Sam Peckinpah und die düstere Darstellung von Alain Delon in Jean-Pierre Melvilles Der eiskalte Engel. Das Ergebnis war eine glänzende Synthese aus Western, Schwertkampf, Film Noir und romantischem Melodram, die sowohl in Hongkong als auch im Westen neu war.

Insbesondere The Killer ist ein Triumph purer Romantik und recycelt Klischees mit unverfrorener Überzeugung: die geblendete Geliebte, die im Kreuzfeuer verwundeten Unschuldigen, der Gauner, der einen letzten Job erledigen muss, der Polizist, der ausgestorbenen Idealen nachhängt, und der alternde Profi, der seine Würde in einem letzten Akt des Mutes wiedererlangt. Jedes Element wird an seine Grenzen getrieben, voller Sentimentalität, eingehüllt in verträumte Übertreibungen. Woo verbindet seine drei Hauptdarsteller*innen durch gewundene Kamerabewegungen, träge Überlagerungen und eingängiger Liebesballaden. Wenn der Protagonist (Chow Yun-fat) zu einem Job aufbricht, fällt sein erster Schritt auf den Downbeat einer Klaviermelodie und schwebt durch Zeitlupe, Standbilder und luxuriöse Kamerafahrten in einen Nachtklub. An einer anderen Stelle fängt die Kamera, die über eine Straße rollt, rote Neonreflexe ein und verwandelt rieselndes Regenwasser in einen Strom aus Blut.

Ein etwas anderer Beitrag zum Genre ist Once a Thief (1991), ebenfalls von Woo, der nach den ungewöhnlich konsistenten City Wolf, The Killer und Bullet in the Head mit Once a Thief einen typischen Film für die lokale Industrie abliefert. Abermals mit von der Partie sind Chow Yun-fat und Leslie Cheung, unterstützt von der sich mittlerweile im Ruhestand befindenden Cherie Chung (Wild Search). Woo mischt Drama, hektische Action und verrückte Vulgarität. So gibt es komische, spannende Überfälle, akrobatische Schießereien, eine fröhliche Tanzszene und eine Reihe von Gags und Witzen. Alles, was in den anderen Filmen zählt – Loyalität, Ehre, Handgranaten – wird von Gags gemolken, und Parallelen scheinen aus purem Amüsement aufgehäuft.

Kein Ende in Sicht

Wie bereits erwähnt, stagniert das Genre seit Mitte der 1990er-Jahre deutlich, auch wenn immer wieder ein paar neue Filme auch zu uns nach Deutschland kommen. Berühmte und vor allem beliebte Beispiele sind u. a. die Infernal-Affairs-Trilogie von Andrew Lau und Alan Mak, Cheang Pou-sois Dog Bite Dog oder auch Drug War von Johnnie To.

Andy Lau & Tony Leung in Infernal Affairs (2002)

Zudem hatte Heroic Bloodsheed einen erheblichen Einfluss auf das Weltkino, sodass die Action, der Stil, die Tropen und Eigenheiten, die in den 1980er-Jahren in Hongkong etabliert wurden, später in den 1990er-Jahren von Hollywood und besonders anderen (süd-)ostasiatischen Ländern weitgehend übernommen wurden. Dies veränderte die Art und Weise, wie Actionfilme gemacht wurden. Ringo Lams City on Fire (1987) inspirierte Quentin Tarantinos Reservoir Dogs (1992) und The Killer beeinflusste Léon – Der Profi von Luc Besson. Und nachdem John Woo selbst in Hollywood drehte, hatte sich sein Stil in den 1990er-Jahren fest etabliert. Aber nicht nur in Nordamerika erlebte das Genre ein Revival, auch die Filmindustrie in Südkorea und Indonesien orientieren sich seit den 2000er-Jahren verstärkt am Hongkonger-Actionfilm. Schön zu sehen, dass Heroic Bloodshed nie richtig aussterben wird.

Horrorfilme… sind für mich eine Möglichkeit, Angstsituationen zu erleben, ohne die Kontrolle zu verlieren. Es ist eine positive Art der Angst, da sich ein Glücksgefühl einstellt, sobald man die Situation durchgestanden hat. Es ist nicht real – könnte es aber sein. Das ist furtchteinflößend und gleichzeitig faszinierend.

...und was meinst du?