Jin-Roh (1999) – Review
„Ein Wolf ist der Mensch dem Menschen, kein Mensch, solange er nicht weiß, welcher Art der andere ist“, schrieb der römische Dichter Plautus in seiner Komödie Asinaria. Ein Ausspruch, der nicht nur englische Philosophen inspirierte, sondern auch in abgewandelter Form im heutigen Sprachgebrauch zu finden ist. Auch im Anime Jin-Roh, suchen die Zuschauer und Protagonisten in einer dystopischen Welt eine Antwort auf die Frage, was den Menschen menschlich macht.
Originaltitel: |
Jinrō Japan 102 Minuten Hiroyuki Okiura Mamoru Oshii Fujiki Yoshikatsu, Sumi Mutō |
Inhalt
Japan in den 1950er Jahren einer alternativen Realität, in der Deutschland den Zweiten Weltkrieg für sich entscheiden konnte. Die anschließende Besatzungspolitik zwang das Land der aufgehenden Sonne in eine schlechte politische und wirtschaftliche Situation – Unterdrückung, Hungersnöte, Armut und Arbeitslosigkeit sind schon bald die Grundlage für die Bildung eines Widerstandes und der Gründung der terroristischen Gruppierung „Die Sekte“ Nach Attentaten und Terroranschlägen gründet die Regierung eine unabhängig agierende „Hauptstadtpolizei“, deren Kern die Spezialeinheit Kerberos bildet.
Kazuki Fuse, Mitglied von Kerberos, steht im Mittelpunkt der Geschichte. Nach einer Straßenschlacht mit einigen Terroristen kommt es zur Konfrontation mit einem Mädchen, das als Bombenkurierin tätig ist. Trotz eindeutiger Befehle schießt er nicht, sondern interessiert sich für die Beweggründe ihres Handelns. Als weitere Soldaten hinzukommen, sprengt sich das Mädchen aus Angst in die Luft. Fuse überlebt unverletzt und wird suspendiert. Zusehends beginnt er, an seinen Handlungen für die Spezialeinheit zu zweifeln, hat Albträume und lernt schließlich durch Nachforschungen die Schwester des toten Mädchens kennen, Kei Amemiya. Während eine ungewöhnliche Liebesgeschichte beginnt, wird im Hintergrund eine politische Verschwörung ersonnen, in der Fuse und Kei zu Schachfiguren degradiert sind.
Hintergrund
Der Debütfilm von Hiroyuki Okiura (Ein Brief an Momo) entstand gemeinsam mit den Animationsstudios Production I.G. und Bandai Visual nach einem Drehbuch von Mamoru Oshii (Angel’s Eggs, Patlabor). Dieser dürfte Anime-Fans vor allem durch seine Regiearbeit Ghost in the Shell aus dem Jahr 1995 ein Begriff sein, an der Okiura als Chefzeichner und Charakterdesigner beteiligt war. Nach zwei vorangegangenen Live-Action-Filmen von Oshii – The Red Spectacles (1987) und StrayDog: Kerberos Panzer Cops (1991) – sollte Jin-Roh den Abschluss dieser Trilogie bilden. Aufgrund Überschneidungen mit der Produktion von Ghost in the Shell, entschied sich Oshii schließlich doch für das Format eines Anime und übertrug die Regie an Okiura. Im Kerberos Universum angesiedelt, erzählt Jin-Roh eine Geschichte, wie sie hätte ablaufen können. Auch wenn Fuse und Kei nicht Bestandteil der 1988-2000 erschienenen Manga-Reihe Kerberos Panzer Cop sind, so wurden einzelne Elemente und Szenen detailgetreu übernommen. Aus diesem Grund ist besonders hervorzuheben, dass Jin-Roh handgezeichnet ist und kaum Computeranimation eingesetzt wurde. Diese ist vor allem seit den 1990er Jahren Bestandteil des Arbeitsprozesses (u.a. in Ghost in the Shell oder Prinzessin Mononoke). Okiura hat sich bei seinem Anime dennoch für eine traditionelle Arbeit entschieden, in der Zeichnungen von Hand auf Folie übertragen oder kopiert werden. Der Hintergrund ist von der Bewegungsphase getrennt, da sich diese nur auf den Folien abspielt.
Kritik
In der komplexen Welt von Jin-Roh ist die alternative Realität ein Grundgerüst für die Geschichte und bietet Raum für Spekulationen. Der Prolog des Films spricht von einer nicht näher genannten Besatzungsmacht, die visuell als Deutschland identifiziert werden kann. Es ist ein anderes Japan der Nachkriegszeit, mit dem Oshii eine deutlich überzogene Parallele schafft, um Kritik an der japanischen Verfassung von 1946 und der umstrittenen Friedenspolitik zu üben.
Trotz einiger Gemeinsamkeiten mit anderen Werken der alternativen Geschichte, richtet Jin-Roh den Blick nach innen. Es gibt keine Revolution und keine Veränderung des aktuell-bestehenden Systems. Der Fokus liegt allein auf Fuse und Kei, die eben in jenem System leben und sich ihrer Verantwortung stellen müssen. Beide sind ein fester Bestandteil ihrer Umwelt, Fuse als Soldat, der die Befehle der Einheit befolgen muss und Kei, die als verhaftete Aufständische keinen Handlungsspielraum besitzt. So wird das Innenleben der Figuren mit all den Ängsten und Leiden für den Zuschauer sichtbar. Okiura versteht es, Fuses Gedankenwelt durch surreale Träume, Flashbacks und Gespräche mit seinem Vorgesetzten plausibel herauszuarbeiten. Bereits zu Beginn wird von Fuse und der Einheit ein tierhaftes Bild gezeichnet, welches durch die Zuneigung zu Kei aufgebrochen wird. Die Beziehung wird langsam und bedächtig ausgebaut, sodass sie visuell und auch musikalisch das düster-bedrohliche Setting durchbricht. Nicht nur die Wolfbrigade wird als funktionierende, kollektive Einheit ausgestaltet, sondern auch die Stadt, die das Geschehen mitbestimmt. Als ein lebendiger Organismus bestehen Assoziationen mit anderen dystopischen Gesellschaften aus der Filmwelt. Es gibt tumultartige Massenszenen und Demonstrationen wie bei Akira und eine dreckige, beengte und überfüllte Stadt wie Los Angeles in Blade Runner. Okiura huldigt hier nicht nur der Science-Fiction, sondern zeichnet die Stadt als dynamischen Moloch im Spannungsfeld von Staatsmacht und Zivilbevölkerung. Eine bildliche Verkörperung des modernen Japans, in dem die Kerberos-Einheit ganz nach dem griechischen Vorbild die Schutzfunktion innehat. Während der dreiköpfige Hund Kerberos das Tor zur Unterwelt bewacht, kontrolliert in Jin-Roh die Spezialeinheit die Gesellschaft zu deren Schutz. Wie auch in meiner Vorstellung der Unterwelt, wird die Stimmung in Jin-Roh durch die Dämmerungs- und Nachtszenen getragen. Eine unheimliche Atmosphäre verbreitet auch die Kanalisation, die einem dunklen Nervensystem ähnelt.
Diese starke visuelle Erfahrung wird von der musikalischen Arbeit von Hajime Mizoguchi abgerundet, vor allem die Titelmelodie ist eindringlich – eine Komposition zwischen Orchestermusik und Gesängen, die an Choräle erinnern. Eindringliche Sound in Szenen der Wolfbrigade oder steigender Dramatik werden durch gefühlsvolle Töne unterbrochen, die die Beziehung zwischen Kei und Fuse charakterisieren. Dennoch ist der Soundtrack gemäßigt eingesetzt und drängt sich nicht in den Vordergrund.
Fazit
Mit Jin-Roh ist Hiroyuki Okiura ein stimmungsvoller Anime gelungen, der durch das Zusammenspiel von Thriller und einfühlsamer Liebesgeschichte nie an Spannung verliert. Die bedrohliche Handlung und traumhaften Sequenzen werden durch einen ruhigen, aber kraftvollen Soundtrack untermalt. Die Figuren, allen voran Fuse und Kei, bekommen genug Zeit eingeräumt, um sich zu entfalten. Trotz der Grobheit der Wolf-Brigade und dem Terrorismus-Thema gibt es relativ wenig Action. Wer diese vermissen sollte, dem sei das Live-Action -Remake von Kim Jee-won empfohlen – alle anderen bekommen mit Jin-Roh einen grandiosen dystopischen Anime, den man sich nicht entgehen lassen sollte.
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Bildquelle: Jin-Roh © WVG Medien GmbH