Hereditary
Kritik

Hereditary (2018) – Review

Eine Familie mit einem düsteren Familiengeheimnis am Rande des nervlichen Zusammenbruchs. Ein inszenierter Albtraum, ein Meisterwerk von einem Debüt.

Originaltitel:
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Laufzeit:
Regie:
Drehbuch:
Cast:

Hereditary
USA
127 Minuten
Ari Aster
Ari Aster
Toni Collette,Milly Shapiro, Gabriel Byrne u.a.

Nach dem Begräbnis ihrer Mutter bemerkt Annie Graham (Toni Collette, The Sixth Sense), dass um sie herum eigenartige Dinge geschehen. So glaubt sie beispielsweise, in der nächtlichen Finsternis ihres Hauses ihre Mutter zu sehen. Auch ihre Tochter Charlie (Milly Shapiro in ihrem Film-Debüt) verhält sich seltsam, wandelt manchmal ziellos mit leerem Blick umher, während sie mit der Zunge Klick-Laute von sich gibt. Dem nicht genug, schneidet sie einer toten Taube den Kopf ab, um diesen einer Puppe aufzusetzen. Ohnehin, Ellen, Annies Mutter, forcierte eine enge Verbindung zu Charlie, so bestand sie sogar darauf, ihre Enkeltochter zu stillen. Dabei hatte Ellen kein gutes Verhältnis zu Annie.

Sie versuchen alle, mit ihrem Verlust zurechtzukommen. Annie besucht eine Selbsthilfegruppe und stürzt sich in ihre Arbeit, in der sie als Künstlerin Dioramen von Räumen, Häusern und einer Landstraße fertigt. Steve (Gabriel Byrne, Stigmata), ihr Ehemann, flüchtet sich in seinen Job und nimmt Medikamente, mit denen er seine Gefühle unterdrückt. Ihr Sohn Peter (Alex Wolff, Boston) hat zusehends Probleme in der Schule und des Nachts furchtbare Albträume, während er fleißig Drogen konsumiert. So leben sie aneinander vorbei, zwanghaft bemüht, nicht über die Dinge zu sprechen, die geschehen oder geschahen; verzweifelt bemüht, alles auszublenden, was um sie herum vor sich geht. Aber dort, in der Nacht, in der Stille, in der Schrift lauert etwas, das sie alle in einen teuflischen Strudel zu reißen droht und sich nicht verdrängen lässt…

Annie Graham ist die Protagonistin des Films, was bereits die erste Szene, die Kamerafahrt auf eins ihrer Dioramen, zeigt. Aus der Miniatur ihres Hauses, des Zimmers ihres Sohnes wird das reale, in dem ihr Sohn Peter auf seinem Bett liegt, als Steve eintritt. Eigentlich deutet diese Szene bereits darauf hin, was über den Verlauf des Filmes hin offenbart wird: Annies Hauptwerk ist nicht die Familie, sondern ihre Kunst, die sie persönlich über ihre Familie stellt. Ihre Familie existiert zwar innerhalb ihres künstlerischen Lebens, entzieht sich jedoch ihrer Kontrolle. Ihre Miniatur-Figuren kann sie stellen, wie sie es wünscht – sie bleiben an dem Platz, auf den sie gestellt wurden, denn sie haben keinen eigenen Antrieb; Menschen aber bewegen sich. Wie sehr sie dies nach ihrem eigenen Willen tun, ist eine der Fragen des Films. Die Kontrolle über das eigene Leben und der Verlust darüber stehen im Mittelpunkt, ebenso wie das Ausschweigen und Aussitzen von Problemen, die Angst vor dem Tod. Es wäre schon fast eine Untertreibung, wenn man behauptet, die Familie sei dysfunktional.

Hereditary funktioniert vor allem als modernes Familiendrama, und genau darum ging es Ari Aster auch nach eigener Aussage auch im Kern. Der Regie-Debütant nennt als Einfluss Werke wie Der Koch, der Dieb, seine Frau und ihr Liebhaber, Der Eissturm und In the Bedroom. Für Aster war es wichtig, als Fundament für seine Geschichte ein Netz aus familiären Verwicklungen zu entwickeln, das realistisch ist, den Zuschauer erreicht und involviert. Aus diesem Grund sah er mit seiner Crew auch vor Drehbeginn Filme von Mike Leigh (Vera Drake, Another Year). Für seinen Film stellte er viele Fragen zum gesellschaftlichen Miteinander. Wie viele Opfer muss eine Mutter bringen, vor allem, wenn die Familie eine – unwillkommene – Ablenkung von der gefühlten Berufung darstellt? Wie sehr kann eine Familie gesteuert werden? Wie viel Schmerz und Trauer kann ein einzelner Mensch ertragen, im größeren Rahmen eine Familie verkraften, bevor Mensch wie Konstrukt zerbrechen? Wo ein Drama enden würde, in der Auflösung dieser Themen, im Zerfall oder der Rettung des Einzelnen und der Familie als Konstrukt, beginnt Hereditary erst. Die menschliche Tragödie, die sich in dem Film glaubhaft abspielt, wird zu einer Spirale, die sich immer weiter dreht, bis sie in einem qualvollen Albtraum mündet. Dabei verzichtet Aster weitgehend auf Jump Scares, die er nach eigener Aussage auch nicht mag. Der Schrecken ist zumeist psychologisch und kommt manchmal sehr leise daher.

Zu Asters Einflüssen zählt auch Rosemaries Baby von Roman Polanski – doch dort, wo man bei Polanski noch darüber spekulieren kann, inwieweit der Horror real ist, ist er bei Aster zweifelsohne Realität. Rosemaries Baby ist nicht nur größer, auch der Schrecken ist greifbarer geworden. Was ist, wenn man selbst das Opfer ist und die tatsächliche Berufung etwas Unvorstellbares? Was, wenn die Berufung und das größere Ganze etwas völlig Zersetzendes ist? Etwas, das nicht nur unkontrollierbar ist, sondern die Kontrolle übernimmt und sogar das Schicksal steuert? Etwas, dass die Grenzen des menschlichen Verstandes übersteigt und unsere Realität sprengt? Dabei setzt Aster dem Zuschauer keine einfachen Antworten vor, denn die Handlung bietet bewusst viel Freiraum zur Interpretation. Auf diesem Fundament baute er den Albtraum, der sich zwar langsam aber umso nachhaltiger aus dem Drama heraus entwickelt. Er nimmt seine Charaktere und deren Geschichte ernst, was im Kontext der Handlung ebenso bitter wird, wie nötig ist, auch wenn er zugunsten der Charaktergestaltung das Erzähltempo etwas drosselt. Die Charaktere binden den Zuschauer, was vor allem an den hervorragenden Schauspielern liegt.

Gabriel Byrne spielt die ganze Routine seiner vierzigjährigen Karriere aus. Alex Wolff spielte bereits in der Serie In Treatment seinen Sohn und er bringt die zunehmende Verstörung seines Charakters glaubwürdig rüber. Toni Collette, die seit Jahren ein Garant für hochwertiges Schauspiel ist, liefert eine ihrer besten Leistungen ab, vielleicht sogar die beste; sie hätte es verdient, wie in The Sixth Sense für den Oscar nominiert zu werden. Die Entdeckung des Films ist die 15-jährige Tony-Preisträgerin Milly Shapiro als Charlie in ihrem Filmdebüt, die, wie der von ihr gespielte Charakter, eine Offenbarung ist. Zu Charlies Merkmalen gehört neben den Klick-Lauten, die sie mit ihrer Zunge macht, auch ein roter Regenmantel. Diesen entlieh Aster dem Horrorfilm Wenn die Gondeln Trauer tragen, der für ihn ebenfalls ein großer Einfluss war. Wie die Tochter in dem Klassiker von Nicolas Roeg kommt auch Charlie eine Schlüsselrolle zu.

Hereditary ist kein Film für nebenbei, zu sehr spielen kleine offene wie verborgene, weltliche wie religiöse Details eine wichtige Rolle. Wie bei einem Schaukasten gewinnt der Film mit jedem dieser Details an Komplexität und an Qualität.

All diese Details werden glänzend von der Kamera eingefangen, die visuelle Qualität und Kraft des Films ist außergewöhnlich. Zwischen Weitwinkelaufnahmen, Zooms und Nahaufnahmen bietet der Film zudem viele optische Finessen, die geschickt in die Handlung eingebaut sind. Wie die bereits angesprochene Anfangsszene: die Totale eines Dioramas, das beim Heranzoomen immer realer wird und in der Naheinstellung schließlich lebendige Realität ist. Ein Teil der Bühne, auf der die Handlung spielt. Derart eingebettet sind auch die anderen Bilder, die die psychologische Wucht noch einmal verstärken.

Untermalt wird der Film von dem atmosphärisch dichten Soundtrack von Colin Stetson (12 Years a Slave, The Rover).

Ein weiterer, sehr wichtiger Bestandteil sind die clever in die Handlung integrierten Toneffekte. Dabei wirken die Toneffekte, im Verbund mit dem Score wie auch allein für sich, als akustische Schreckenskulisse. So war beispielsweise selten die friedliche nächtliche Stille derart beunruhigend wie in Hereditary; durchbrochen von einem einzelnen menschlichen Laut, der sonst eher unauffällig ist, steigert sich die Situation zum puren Horror. Nicht nur in der betreffenden Szene ist der Soundeffekt perfekt platziert.

Hereditary ist sicherlich nicht jedermanns Geschmack. Das Drama nimmt viel Platz ein, der Film setzt mehr auf einen langsamen, subtilen Spannungsaufbau denn auf schnelle Schocks. Auch wenn das Geschehen voller untergründiger Gewalt ist, verzichtet Aster auf deren Zelebrierung. Darin ähnelt er neben den genannten Einflüssen anderen Filmen neueren Datums wie Babadook oder The Witch. Wer sich auf den Film einlässt, wird mit einem der besten psychologischen Horrorfilme der letzten zwanzig Jahre belohnt.

 

Bewertung

Spannung Rating5_5
Atmosphäre Rating: 4 von 5
Gewalt  Rating: 2 von 5
Ekel  Rating: 1 von 5
Story  Rating: 5 von 5

Bildquelle: Hereditary © Splendid

Horrorfilme sind eines der Genres des Films, den ich in seiner Gesamtheit seit meiner frühesten Kindheit und der ersten Begegnung mit den Kreaturen des Ray Harryhausen fast schon abgöttisch liebe. Im Horrorfilm taucht der Zuschauer nicht nur bis zu den Abgründen der menschlichen Seele, sondern häufig weitaus tiefer.

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