Piercing
Kritik

Piercing (2018) – Review

Nicolas Pesce (The Eyes of My Mother) bedient sich des Giallos und liefert mit Piercing einen wundervollen, morbiden Tanz zweier Psychopathen ab.

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Piercing
USA
81 Minuten
Nicolas Pesce
Nicolas Pesce
Roman „Piercing“ von Ryū Murakami
Christopher Abbott, Mia Wasikowska, Laia Costa u.a.
Ab 28. Juni 2019 im Handel

Im Zuge der Entstehung von Nicolas Pesces Spielfilmdebüt The Eyes of My Mother entdeckte der Regisseur und Drehbuchautor den japanischen Schriftsteller Ryū Murakami für sich. Dessen Roman „Audition“ liegt dem gleichnamigen Film von Takashi Miike zugrunde, welchen Pesce als einen seiner Lieblingsfilme bezeichnet und der auch einen großen Einfluss auf sein Debüt hatte. Während Pesce die Romane von Murakami verschlang, stieß er auf „Piercing“ und ihm war sofort klar, dass er dieses Werk verfilmen wollte.
Mit The Eyes of My Mother hatte sich der Regisseur bei Freunden des Arthouse-Horrors schon einen Namen gemacht und erhielt dafür auch viele enthusiastische Kritiken. So hat der kunstvolle Film auch bei uns in der Redaktion seine Fans und gehört zu einem meiner meist geschätzten Horrorfilme der letzten Jahre. Dementsprechend war ich schon sehr gespannt, ob Pesce die hohen Erwartungen mit seinem Zweitling befriedigen kann.
Der Regisseur kommentierte seinen neuen Film in einem Interview damit, dass er etwas ganz anderes machen wollte als The Eyes of My Mother. Dies betreffe insbesondere den Umgang mit Gewalt, aber auch, dass Piercing in Farbe und auf Englisch sei. Davon abgesehen werden Freunde des Debüts strukturell einige Parallelen finden. So ist auch dieses Mal wieder alles kammerspielartig angelegt mit einem sehr kleinen Cast und keiner exakten Verortung des Geschehens.

Vom abgelegenen Farmhaus verlagert sich der Schauplatz des Kammerspiels in zwei Appartements, ein Hotelzimmer und dreht sich um zwei Personen. Zum einen haben wir einen jungen Familienvater (Christopher Abbott, It Comes at Night), der vom unbändigen Verlangen gequält wird, sein Baby zu töten. Um diesen Durst zu stillen, plant der unscheinbare Vater, sich eine Prostituierte auf ein Hotelzimmer zu bestellen und sie dort zu ermorden. Zum anderen haben wir eben jene Prostituierte (Mia Wasikowska, Crimson Peak), die, gleich ihrem Gegenspieler, ihre ganz eigenen dunklen Geheimnisse hinter einer makellosen Fassade verbirgt. Piercing widmet sich, im Aufbau einer Kurzgeschichte gleich, dem Aufeinandertreffen dieser zwei menschlichen Abgründe.

Piercing

Es macht irrsinnig viel Spaß, dem morbiden Tanz der zwei Hauptcharaktere zu folgen, die sich im Laufe der Geschichte ineinander selbst finden. So lässt sich Piercing als eine der schrägsten Liebesgeschichten aller Zeiten lesen, welche vor allem durch das eindringliche Spiel von und der tollen Chemie zwischen Abbott und Wasikowska hervorragend gelingt.
Diese Interpretation ergibt sich nicht zwingend aus dem Gesehenen. Der Film lässt sehr viel offen. Die Darstellung ist fragmentarisch und vermischt Realität, Visionen, Albträume und Wahnvorstellungen zu einer schwer durchschaubaren Melange. Pesce fordert das Publikum heraus, das Gesehene zu hinterfragen und sich die Geschichte selbst zusammenzupuzzeln. Dennoch bleiben die kryptischen Elemente Teil einer nachvollziehbaren Story und erhöhen somit die Faszination und laden zum Spekulieren ein.

Die Inszenierung von Piercing ist in den 70ern zu Hause und lehnt sich hier besonders am italienischen Giallo an. So erklingt zum Beispiel „Tenebre“ von Goblin, wir sehen allerhand phallische Waffen und die obligatorischen Handschuhe in Nahaufnahme dürfen natürlich auch nicht fehlen. Zudem erinnern die verwendeten Split-Screen-Elemente an Werke von Brian De Palma.
Neben diesen ästhetischen Aspekten ist es vor allem auch spannend, wie Pesce mit den Grenzen zwischen Sein und Schein umgeht. Beispielsweise lässt er das Publikum diese verschwimmende Grenze direkt wahrnehmen, indem er an einer Stelle eine Diskrepanz zwischen Bild- und Tonebene erzeugt.

Piercing

Bei all diesen Stärken ist es bedauerlich, dass Piercing gefühlt mit angezogener Handbremse unterwegs ist. Gerade bei der stark sexuell aufgeladenen Thematik mit reichlich Sadomaso-Elementen ist es regelrecht schockierend wie asexuell und in letzter Instanz auch handzahm die Inszenierung ausgefallen ist. Werden in vielen Filmen völlig unnötig Sex- und Gore-Szenen eingeflochten, so verweigert sich Piercing trotz passender Thematik dem fast komplett. Gerade im Vergleich zu Audition oder The Eyes of My Mother kommt der Streifen geradezu komödiantisch-leichtfüßig daher. Auch wenn ich diese morbide, schwarzhumorige Grundstimmung sehr schätze und sie dem Film äußerst gut steht, lässt mich doch das Gefühl nicht los, dass hier Potential verschenkt wurde. Ich denke, Pesce hätte mit einigen expliziteren Szenen die grotesken Szenarien noch mehr zur Geltung bringen können.

Aber obwohl ich mir gewünscht hätte, dass Piercing die vorhandenen Abgründe drastischer aufzeigt, ist Nicolas Pesce ein wundervoller Film und würdiger Nachfolger zu The Eyes of My Mother gelungen. Wie auch schon der Vorgänger kümmert sich auch dieser nicht um die Konventionen des klassischen Erzählkinos. Wen so etwas nicht stört und wer Freude an einer Arthouse-Horror-Romanze mit Giallo-Elementen hat, der sollte auf jeden Fall einen Blick wagen. Piercing ist ein faszinierender Film, der auch noch lange nach der Sichtung vor sich hin gärt und definitiv zu mehreren Sichtungen einlädt.

 

Bewertung

Spannung Rating: 3 von 5
Atmosphäre Rating: 3 von 5
Gewalt  Rating: 2 von 5
Ekel  Rating: 1 von 5
Story  Rating: 4 von 5

Ab 28. Juni 2019 im Handel:

Piercing

Bildquelle: Piercing © Busch Media Group

Horrorfilme sind für mich ein Tor zu den unheimlichen, verstaubten Dachböden und finsteren, schmutzigen Kellern der menschlichen Seele. Hier trifft man alles von der Gesellschaft abgeschobene, unerwünschte, geächtete, begrabene: Tod, Schmerz, Angst, Verlust, Gewalt, Fetische, Obsession. Es ist eine Entdeckungsreise auf die "Schutthalde der Zivilisation". Auf diese Reise würde ich euch gerne mitnehmen.

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