Enter the Void (2009) – Review
Nach seinem skandalösen Erfolgsfilm Irreversibel aus dem Jahr 2002 sollten satte sieben Jahre vergehen, ehe Gaspar Noé seinen dritten Spielfilm veröffentlichen wird. In Enter the Void schickt uns das Enfant Terrible des französischen Kinos auf eine bizarre Odyssee und lässt uns teilhaben an einem fast dreistündigen psychedelischen Trip.
Originaltitel: |
Enter the Void Frankreich, Japan, Kanada 163 Minuten Gapar Noé Gapar Noé Nathaniel Brown, Paz de la Huerta u.a. |
Die Geschwister Oscar und Linda leben gemeinsam in einer kleinen Ein-Raum-Wohnung in Tokio. Nachdem beide als Kleinkinder ihre Eltern bei einem brutalen Autounfall verloren haben, schworen sie sich gegenseitig, sich niemals zu verlassen. So hält sich Oscar als Drogendealer über Wasser, während Linda als Stripperin für den Club-Besitzer Mario arbeitet. Bei einem Deal wird Oscar jedoch hopsgenommen und von der Polizei erschossen. Seine Seele wandert daraufhin losgelöst von Zeit und Raum als Geist müde und rastlos durch das nächtliche Tokio auf der Suche nach Erlösung.
Ein neonfarbiges Effektgewitter eröffnet den Film und nimmt schon früh vorweg, was die Zuschauenden in den nächsten fast drei Stunden erwartet: Ähnlich wie in Stanley Kubricks 2001: Odyssee im Weltraum ist es gar nicht so wichtig, was genau man alles sieht, sondern die Sinneserfahrung selbst steht hier im Vordergrund. Dem gewillten Zuschauer wird nämlich die Möglichkeit eingeräumt, an einer spirituellen und transzendenten Reise teilzunehmen, an deren Ende (hoffentlich) die reine Erlösung steht.
Wie in allen anderen Filmen von Noé, spielen auch in Enter the Void Themen wie (Kontroll-)Verlust, sexuelle Begierde, Zerstörung, Rausch und Tod tragende Rollen. Wahrscheinlich ist dieser Film auch derjenige in Noés Filmographie, der die meisten der benannten Stichwörter am ambitioniertesten ausführt. Psychedelischer Rausch spielt beispielsweise eine ebenso existenzielle Rolle wie Sex: Das Vergnügen kann in der filmischen Welt von Noé nicht existieren, ohne dass Tugend und Moral an ihrer Stelle weichen müssen. Dies wird schon früh nach Oscars Tod deutlich, als Szenen aus der gemeinsamen Kindheit der Geschwister gezeigt werden. Inzestuöse Gedanken werden nur der Moral wegen verdrängt – als vom Diesseits losgelöster Geist kann sich der Protagonist diesen jedoch endlich vollkommen hingeben. Abgeschottet von der realen Welt gelten keine Regeln mehr; weder für die ruhe- und hilflos gleitende Seele Oscars noch für den unbeteiligten Zuschauer, der unweigerlich in die Rolle des Voyeurs gedrängt wird.
So weit, so oberflächlich; denn als Zuschauer wird man, wie bei Noé typisch, einmal mehr unumgänglich in diesen Trott hineingesaugt, denn als Oscar während seiner Ermordung unverständlich auf seine von einer Kugel durchlöcherten Brust hinabschaut, offenbart sich dem Betrachter gnadenlos der kalte, einsame Prozess des Sterbens. Im neun Jahre später erscheinenden Climax wird es heißen „Der Tod ist eine außergewöhnliche Erfahrung“. Diese Erfahrung zieht sich in Enter the Void allerdings so sehr in die Länge, dass man statt der Außergewöhnlichkeit hauptsächlich das Grauen und die Verlorenheit dieser erfährt. Wenn Oscars Geist seinen leblosen Körper verlässt, dann nimmt sich Noé außerordentlich viel Zeit für die Visualisierung dieses Vorgangs. In den im Anschluss folgenden Flashbacks beobachten wir hauptsächlich Oscars Hinterkopf und schauen ihm bei seinem vorherigen Leben über die Schulter. Immer wieder durchbricht die Kamera hierbei die Grenzen von Zeit und Raum und führt uns unter anderem auch in die Kindheit der beiden Geschwister zurück, zum Tod ihrer Eltern und in die letzten Tage und Stunden vor Oscars frühzeitigem Ableben.
Besonders das Sujet der Reinkarnation zieht sich leitmotivisch durch den gesamten Film und wird von Noé geschickt audiovisuell untermalt. Psychedelische Halluzinationen sind dabei nur die oberflächlichste Variation, um ein Vorhandensein eines tatsächlich existierenden „Jenseits“ darzustellen. Die willkürliche narrative Erzählstruktur, auf die sich Enter the Void die gesamte Laufzeit über verlässt, ist vor allem zu Beginn besonders interessant, verlangt dem Zuschauer aber ebenso einiges an Sitzfleisch ab. Einen konventionellen Spannungsbogen, der die Zuschauer für gewöhnlich bei Stange halten soll, sucht man hier vergebens.
Wer sich also im Vorfeld nicht ausreichend auf die (für Noé-Filme typische) anstrengende Inszenierung des Films vorbereitet, wird wahrscheinlich in hohem Maße enttäuscht sein. Ein nicht zu verachtender Aspekt ist hier definitiv auch die sehr lange Laufzeit von immerhin 163 Minuten.
Natürlich ist diese extreme Länge auf der einen Seite ein treffsicheres Stilmittel, wenn es darum geht, den Film beim Zuschauer auch wirklich wie einen exzessiven Trip und eine einschneidende Erfahrung wirken zu lassen. Auf der anderen Seite kann es ohne Zweifel als eine nicht leicht zu bewältigende Herausforderung angesehen werden, dem ständig ruhelos durch Zeit und Raum bewegenden Geist von Oscar stets aufmerksam zu folgen. Wenn jemand aufgrund dieses Umstandes also lange vor dem Ende der titelgebenden gähnenden Leere resigniert, ist dies definitiv nachvollziehbar.
Die einzige wirkliche Schwäche, die Enter the Void also mit sich bringt, ist ausgerechnet der sonst so effektiven unkoordinierten Erzählweise geschuldet. Zwar ist die elegante und schwerelose Kameraführung besonders ästhetisch anzusehen, wird aber konventionelleren Kinogängern sehr vor den Kopf stoßen. Die Sprünge zwischen Vergangenheit und Gegenwart, Diesseits und Jenseits sind dafür einfach zu groß und ambitioniert, was den Film unterm Strich einfach doch zu lang werden lässt.
Wer schon mal einen anderen Film von Noé gesehen hat und mit der intensiven Farbgebung, Kameraführung und Körperlichkeit nichts anfangen konnte, wird auch mit Enter the Void definitiv keine Freude haben. In vielen dieser Punkte ist er nämlich wahrscheinlich Noés extremste Arbeit. Wem der Stil des argentinisch-französischen Regisseurs jedoch zusagt, für den wird der Film zu einem wahren Fest für die Sinne werden, in dem man sich vollkommen verlieren kann.
Alles in allem ist Enter the Void ein Film, der (mal wieder) allen Konventionen des Mainstream-Kinos trotzt und besonders durch seine passive Beobachterhaltung den Zuschauer unweigerlich in seinen Bann zieht. Gaspar Noé demonstriert in herausragender Ambivalenz, inwiefern psychedelische außerkörperliche Erfahrungen grauenhafte und gleichzeitig so betörende Wirklichkeit werden können. Herausfordernder und kühner wird man das Medium Film wohl kaum erleben und eben dieser Wagemut ist es, der Enter the Void zu einem – wenn auch bei Weitem nicht einfachen – Meilenstein des ekstatischen (Horror-)Kinos macht. Eine beabsichtigt strapaziöse und schwerfällige Odyssee zwischen Tod und Wiedergeburt, der man sich wenigstens einmal im Leben hingeben sollte.
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Story |
Bildquelle: Enter the Void © Alamode Film