Szene aus The Innocents
Kritik

The Innocents (2021) – Review

Eskil Vogt verknüpft in The Innocents Sozialdrama mit Superhelden-Elementen zu einer faszinierenden Horror-Melange. Wir haben uns für euch zu den Unschuldigen nach Norwegen begeben.

Originaltitel: De uskyldige
Land: Norwegen/Schweden/Dänemark/Finnland/Frankreich/Großbritannien
Laufzeit: 117 Minuten
Regie: Eskil Vogt
Drehbuch: Eskil Vogt
Cast: Rakel Lenora Fløttum, Alva Brysnmo Ramstad, Sam Ashraf u.a.
VÖ: Ab 29.07.2022 als DVD, Blu-ray und Mediabook im Handel

Hintergründe & Inhalt

Eskil Vogt machte sich bislang vor allem durch seine Kollaborationen mit Joachim Trier als Drehbuchautor einen Namen. Insbesondere Thelma sollte dem geneigten Arthaus-Horror-Fan ein Begriff sein. Mit The Innocents legt er nun seinen zweiten Spielfilm nach Blind von 2014 vor, bei dem er für Drehbuch und Regie verantwortlich zeichnet.

Die neunjährige Ida (Rakel Lenora Fløttum) und ihre ältere Schwester Anna (Alva Brynsmo Ramstad) ziehen mit ihren Eltern in einen Appartmentkomplex irgendwo am Rande einer norwegischen Stadt. Während die nicht verbale und autistische Anna sich mit Aisha (Mina Yasmin Bremseth Ashheim) anfreundet, die ihre Gedanken lesen kann, lernt Ida Ben (Sam Ashraf) kennen, der über telekinetische Fähigkeiten verfügt. Doch Bens Begabung ist stärker als erwartet und bringt die gesamte Gruppe bald in große Gefahr …

Kritik

Was später noch wie ein Superhelden-Origin-Film wirkt, beginnt zunächst als Sozialdrama über Kinder, Freundschaft und Unschuld mit einer überaus naturalistischen Inszenierung. Selbst jene Momente, in denen übernatürliche Fähigkeiten zu Tage treten, werden von den Kindern völlig selbstverständlich in ihre Realität integriert. Äußerst geschickt verwebt Vogt eine solche Szene schon in den ersten Minuten des Films in das Spiel der Kinder, ohne dem danach weiter Beachtung zu schenken. Nonchalant etabliert der Norweger damit seine Prämisse des Magischen Realismus und kann sich fortan mit der Psychologisierung beschäftigen. The Innocents versucht hier schon ab der ersten Minute alles, um unsere assoziative Verknüpfung von Kindern und Unschuld zu torpedieren. Vielmehr beleuchtet der Film unterschiedliche Szenarien von Gewalthierarchien: Eltern gegenüber ihren Kindern, Kindern gegen schwächeren Kindern, Kindern gegenüber Kindern mit Behinderung, Kinder gegenüber Tieren. Dabei macht es sich The Innocents jedoch nie so einfach, einzelne Akteur*innen als böse oder sadistisch zu brandmarken. Gewalt ist hier in erster Linie ein Mittel zur Selbstwirksamkeit. Kinder, gerade jene die Gewalt erfahren, fühlen sich oft hilf- und machtlos und Gewalt gegenüber noch Schwächeren ist eben nicht nur ein Ventil für Wut, sondern auch eine Möglichkeit Kontrolle zu erlangen. The Innocents verwendet viel Zeit darauf diese Dynamiken zu veranschaulichen und aufzuzeigen woher die gezeigte Gewalt kommt – die in ihrer Inszenierung alles andere als zimperlich ist und auch vor kaum ansehbaren Grausamkeiten nicht zurückschreckt. Der Film macht dabei einen herausragenden Job, seine vier Protagonist*innen zu skizzieren, ohne alles auszubuchstabieren. Vieles wird subtil eingeflochten und damit die Lebenswelten der Kinder erfahrbar gemacht.

Szene aus The Innocents

Erst als diese Dynamiken etabliert sind, beginnt Vogt die phantastischen Elemente wieder hochzufahren. Die eingesetzten Tropen des Superheldenfilms wirken dabei wie eine Lupe auf den Mikrokosmos der Kinder. Die Dynamiken zwischen den Kindern, aber auch mit ihren Eltern werden beschleunigt und durch die übernatürlichen Kräfte eskaliert. Kindliche Wunschvorstellungen sowie Rache- und Gewaltphantasien werden plötzlich Realität. Waren zunächst in erster Linie Tiere Opfer der Kinder, werden nun die Grenzen deutlich verschoben.

The Innocents gelingt es dabei erstaunlich gut, zwischen Sozialdrama und Superheldenfilm zu changieren. Natürlich gibt es Momente, in denen die der Superheldengeschichte geschuldete Überzeichnung, der Psychologisierung der Figuren schadet, aber im Endeffekt bleibt der Film durchwegs erstaunlich geerdet. Dies liegt vor allem daran, dass der Film fast durchgehend seinem naturalistischen Stil treu bleibt und nur in ganz wenigen dramaturgischen Höhepunkten zu einer expressiven Stilisierung greift. Auch die Effekte sind nur sehr reduziert eingesetzt und entfalten ihre Wirkung in erster Linie über das herausragende Sounddesign.

Szene aus The Innocents

Fazit

So erzählt The Innocents am Ende parallel zwei Geschichten. Einerseits von den Widrigkeiten des Aufwachsens in einer nicht privilegierten Familie und andererseits ganz im Stile des Superheldenkinos vom stilisierten Kampf Gut gegen Böse. Wie schon Thelma arbeitet der Streifen dafür mit einer faszinierenden Mischung aus Sozialrealismus und Phantastik und reißt sämtliche Grenzen zwischen Trivialität und Arthaus mit Leichtigkeit ein.

 

Bewertung

Grauen Rating: 3 von 5
Spannung Rating: 3 von 5
Härte  rating4_5
Unterhaltung  Rating: 4 von 5
Anspruch  Rating: 3 von 5
Gesamtwertung Rating: 5 von 5

Ab 29.07.2022 als DVD, Blu-ray und Mediabook im Handel:

Blu-ray von The Innocents Mediabook von The Innocents

Bildquelle: The Innocents © Capelight Pictures

Horrorfilme sind für mich ein Tor zu den unheimlichen, verstaubten Dachböden und finsteren, schmutzigen Kellern der menschlichen Seele. Hier trifft man alles von der Gesellschaft abgeschobene, unerwünschte, geächtete, begrabene: Tod, Schmerz, Angst, Verlust, Gewalt, Fetische, Obsession. Es ist eine Entdeckungsreise auf die "Schutthalde der Zivilisation". Auf diese Reise würde ich euch gerne mitnehmen.

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