Titane
Kritik

Titane (2021) – Review

Nach ihrem beeindruckenden Spielfilmdebüt Raw legt die französische Regisseurin Julia Ducournau noch eine Schippe drauf und liefert mit Titane eine beachtenswerte Legierung aus Stahl und Wahnsinn. Wir haben im Cadillac Platz genommen und uns auf die wilde Fahrt eingelassen.

Originaltitel: Titane
Land: Frankreich/Belgien
Laufzeit: 108 Minuten
Regie: Julia Ducournau
Drehbuch: Julia Ducournau
Cast: Agathe Rousselle, Vincent Lindon u.a.
VÖ: Seit 07.10.2021 im Kino

Während der Fahrt übt sich das Kind in der Imitation von Autogeräuschen. Genervt dreht der Vater das Radio lauter. Das Brummen des Kindes hebt an. Das Radio nun fast auf Anschlag. Tritte gegen den Fahrersitz. Der Vater verliert die Geduld und damit die Kontrolle über das Fahrzeug. Aus den Trümmern steigen eine endgültig gestörte Eltern-Kind-Beziehung sowie ein Mädchen mit einer Titanplatte im Kopf und einer geweckten oder intensivierten Liebe für glänzendes Metall.

Dies ist die Eingangssequenz von Titane, dem zweiten Spielfilm der französischen Autorenfilmerin Julia Ducournau. Nach ihrem Debüt Raw nahm sie nicht nur zum zweiten Mal an den Filmfestspielen von Cannes teil, sondern gewann dieses Jahr sogar die Goldene Palme – und somit einen der bedeutendsten Filmpreise auf diesem Globus. Damit ist sie erst die zweite Frau in der Geschichte des Festivals, der dies gelingt. Gut zwei Monate später eröffnet eben jener Film das österreichische SLASH Filmfestival. Es sorgte beim genreerprobten Festivalpublikum immer wieder für nervöse Lacher, was sehr für die transgressive Kraft des Films spricht.

Titane

Die Reaktion verwundert wenig, bietet Ducournaus Werk doch wenig Halt und fordert uns immer wieder aufs Neue heraus. Bei einem Film, der zwischen Exploitationer über eine Cadillac-fickende Serienkillerin und zärtlichem Genderbender-Arthouse-Drama changiert, bleibt der Boden auch bis zum Ende hin wackelig. Titane entzieht sich klassischen Narrativen sowie Genrekonventionen und erzählt die Geschichte von der entwurzelten und entfremdeten Alexia (Agathe Rousselle). In der zu Beginn geschilderten intensiven Eingangssequenz können wir einen flüchtigen Blick auf Alexias Kindheit erhaschen, um nur wenig später zu sehen, wie sie sich unter einem dröhnenden Beat und den geifernden Blicken des männlichen Publikums lasziv auf einem Auto räkelt. Und obwohl die Show den Umstehenden gilt, für die Alexia, als kleine Berühmtheit in ihrer Nische, am Ende noch fleißig Autogramme verteilt, gilt ihr Balzritual allein dem kalten Stahl. Nach einer ersten Gewaltspitze folgt daraufhin auch schon einer der bizarren Höhepunkte von Titane, der in Alexia noch einmal ganz neue Gelüste freigelegt zu haben scheint und sie auf eine wahnwitzige Flucht schickt. Eine Reise, die vor allem eine Suche nach Geborgenheit, nach Zugehörigkeit, nach einer wirklich wahrhaftigen Verbindung zu anderen Menschen, Wesen oder auch Dingen – und ganz besonders eine Suche nach sich selbst – darstellt.

Hier biegt Ducournau dann auch erzählerisch wie tonal mächtig scharf ab, sodass man nicht nur die Orientierung verlieren kann, sondern zuweilen sogar vergisst, warum Alexia die Reise überhaupt begonnen hat. Denn nach einem blutigen Spektakel finden wir schlussendlich in den hypermaskulinen Reigen einer Feuerwehrmannschaft Unterschlupf. Nachdem kürzlich noch einige flott inszenierte Kills den Ton angaben, schlägt Titane nun komplett um. Stand die erste Hälfte noch ganz im Zeichen der Rebellion, der Abgrenzung und vor allem des Aufbruchs, widmet sich die zweite Hälfte in einer ungeahnten Zärtlichkeit dem Ankommen in einem neuen Zuhause und einer neuen Version von sich selbst. Ab diesem Zeitpunkt gleitet der Film vielmehr noch als zuvor in eine komplett phantastische Welt ab, die fast gänzlich entkoppelt von jeglicher Realität zu existieren scheint. Ducournau arbeitet sich hier viel an Geschlechtsidentitäten und an unterschiedlichen Perspektiven von und auf Personen unterschiedlichen Geschlechts ab. In der ersten Hälfte ist Alexia eindeutig noch in einer konventionellen weiblichen Rolle verhaftet und sieht sich nicht nur einer permanenten Objektifizierung, sondern auch sexuellen Übergriffen ausgesetzt. Damit einher geht nicht nur Angst um die eigene Unversehrtheit, sondern auch eine ordentliche Wut im Bauch, die irgendwann in kaltblütige Destruktivität umschlägt. Erst als in der zweiten Hälfte Geschlechterbilder immer mehr dekonstruiert werden, wagt sich nicht nur Alexia langsam aus ihrer Deckung, sondern auch Titane schlägt optimistischere Töne an und lässt in den letzten Bildern sogar die Hoffnung auf so etwas wie bedingungslose Liebe aufkeimen.

Titane

Fazit

Irgendwo zwischen David Lynchs Eraserhead, David Cronenbergs Crash und Shin’ya Tsukamotos Tetsuo ist Julia Ducournau wohl einer der mutigsten Arthouse-Horrorfilme der letzten Jahre gelungen. Es ist beeindruckend mit welcher Kompromisslosigkeit diese chromatisch glänzende Monstrosität über sein Publikum hinwegrollt. Ducournau geht nicht auf Nummer sicher, sondern drückt mächtig aufs Gas. Sich weder um das Feuilleton noch um die Genrefans scherend, ergibt sich daraus ein Film in unbändiger Kraft und berührender Zärtlichkeit zugleich.

 

Bewertung

Grauen Rating: 3 von 5
Spannung Rating: 3 von 5
Härte  Rating: 2 von 5
Unterhaltung  Rating: 4 von 5
Anspruch  Rating: 4 von 5
Gesamtwertung Rating: 4 von 5

Bildquelle: Titane © Koch Films

Horrorfilme sind für mich ein Tor zu den unheimlichen, verstaubten Dachböden und finsteren, schmutzigen Kellern der menschlichen Seele. Hier trifft man alles von der Gesellschaft abgeschobene, unerwünschte, geächtete, begrabene: Tod, Schmerz, Angst, Verlust, Gewalt, Fetische, Obsession. Es ist eine Entdeckungsreise auf die "Schutthalde der Zivilisation". Auf diese Reise würde ich euch gerne mitnehmen.

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