Filmfestival,  Kritik

Fellwechselzeit (2020) – Review

In ihrem Spielfilmdebüt Fellwechselzeit zeigt Sabrina Mertens ein Martyrium, das gerade aus dem Verzicht auf große Worte und spektakuläre Bilder seine verstörende Kraft bezieht. Wir haben die unheimliche Familiengeschichte im Rahmen des diesjährigen Randfilmfests gesehen und verraten euch, warum ihr euch dieses bedrückende Erlebnis auf keinen Fall entgehen lassen solltet.

Originaltitel: Fellwechselzeit
Land: Deutschland
Laufzeit: 80 Minuten
Regie: Sabrina Mertens
Drehbuch: Sabrina Mertens
Cast: Zelda Espenschied, Miriam Schiweck, Freya Kreutzkam u.a.

Inhalt

Deutschland in den 1970er-Jahren. Stephanie (Zelda Espenschied) ist ein aufgewecktes und intelligentes Mädchen, führt mit ihrer Familie aber ein isoliertes Dasein, das von Vernachlässigung und Lebensverdruss geprägt ist. Während der Vater vorm Fernsehgerät vegetiert, hat die Mutter ihre eigene Kindheit nie hinter sich gelassen und wandelt inmitten der Erinnerungsstücke von damals. Stephanie bleibt sich selbst überlassen und mit den Jahren wird aus dem lebhaften Kind ein depressiver Teenager (Miriam Schiweck), der sich aus dem monotonen Alltag in düstere Fantasien hinein flüchtet.

Kritik

In 57 Bildern zeigt die Hamburger Filmemacherin Sabrina Mertens den Zerfall einer Familie. Deren Leben steht von Anfang an unter einem Unstern, obwohl zunächst alles ganz unauffällig scheint. Vater, Mutter und Tochter Stephanie bewohnen gemeinsam mit der Familienkatze eine piefige 70er-Jahre-Wohnung; zwischen den Verrichtungen und den bescheidenen Freuden des Tages entwickelt sich beinahe eine Art Spießeridylle. Doch unter der erstarrten Oberfläche brodelt es, wie Mertens‘ anhand zahlloser kleiner Faserrisse im alltäglichen Gefüge sichtbar macht.

Die Mutter lebt in den Reliquien ihrer eigenen Vergangenheit, von der sie sich nicht freimachen kann. Wie ein Vakuum existiert die verwahrloste Wohnung außerhalb von Raum und Zeit, vollgepackt mit Möbeln, Kleidern, Fotografien und anderen Dingen von früher. Wie eine Schlafwandlerin geistert die Mutter durch diese musealen Räumlichkeiten, wenn sie nicht gerade apathisch im Bett liegt, inmitten eines Haufens alter Puppen. Andere Spielgefährtinnen bleiben auch Stephanie nicht, die sich stattdessen um die unselbstständige Mutter kümmern muss. Sie habe „einen Knacks bekommen“, sinniert diese entschuldigend und entzieht sich damit ihrer elterlichen Verantwortung. Selbstständig muss Stephanie ihren Alltag meistern, denn auch der Vater beachtet sie höchstens bei einer seiner verbalen Attacken.

Doch auch Stephanies Flucht vor der erdrückenden Monotonie des Alltags führt sie in die Vergangenheit. Ein alter Koffer mit den Werkzeugen des Großvaters, eines Metzgers, fasziniert das Mädchen – der staubige Speicher, auf dem er lagert, wird ihr bevorzugter Rückzugsort und das Bolzenschussgerät später ein Teil ihrer autoerotischen Spiele. Dass der Film auf dem 41. Max-Ophüls-Festival für gespaltene Reaktionen sorgte, verwundert angesichts der Phantasmagorien, zu denen sich ihre morbide Faszination für die Vergangenheit auswächst, daher kaum.

Fellwechselzeit zeigt eine Gegenwart ohne Zukunft: Ein Leben ist nur noch im Präteritum möglich, denn das Unausgesprochene lastet auf der Familie, erdrückt sie förmlich und lässt keine Entwicklung zu. Obwohl Mertens‘ Psychodrama vage bleibt, lässt die Verortung im Nachkriegsdeutschland der 1970er-Jahre Vermutungen darüber zu, welche Traumata hier verhandelt werden – oder gerade nicht. Die Verdrängung hat jedoch ihren Preis, denn das Verschwiegene bleibt präsent – als unsichtbare Last auf den Schultern der Protagonist:innen, die an die nächste Generation weitergegeben wird.

Das visuelle Konzept greift diese Stagnation auf und übersetzt sie in bedrückende Bilder. Fellwechselzeit spielt fast ausschließlich im Inneren der Wohnung, so dass auch die Zuschauer:innen dort gefangen bleiben. Als „Stillleben einer Familie in 57 Bildern“ konzipiert, fängt der Film in 57 Aufnahmen das triste Leben der Familie ein; keine Schnitte, keine Close-Ups oder Kameraschwenks beleben diese Szenen, die wie altertümliche Tableaux vivants anmuten. Die Einstellungen lenken den Blick nicht auf bestimmte Details, sondern lassen den Betrachter:innen Zeit – sogar unangenehm viel Zeit, wenn etwa Mutter und Tochter sich minutenlang anstarren, während die Anspannung ins Unerträgliche steigt – die beunruhigenden Bildkompositionen selbst zu erkunden. Auch die spärlichen Dialoge fügen sich in diese installative Anordnung ein, geht es doch meist nicht um eine gelungene Kommunikation, sondern um Satzfetzen, die selbst wie flächige Dekorationselemente im Raum zu schweben scheinen.

Diese düsteren Tableaux fügen sich assoziativ zu einer Geschichte zusammen, die Mertens mehr andeutet als erzählt. Ihr sei es „um Situationen, Stimmungen, subtile Empfindungen [gegangen], die sich der verbalen Ausdrucksmöglichkeit entziehen“ – in Fellwechselzeit nähert sie sich ihnen darum über eine Bildsprache, die jenes dumpfe Gefühl zu vermitteln sucht, jene Ausweglosigkeit und Todessehnsucht, das die Familie zu Gefangenen ihrer eigenen Vergangenheit macht.

Fazit

Mit Fellwechselzeit polarisierte die Filmemacherin Sabrina Mertens bereits auf dem diesjährigen Max-Ophüls-Festival und zeigte, wie innovativ deutsches Kino sein kann. Mit winzigem Budget realisiert sie eine düstere Familiengeschichte, die trotz – oder gerade wegen – ihrer leisen Töne zu einer intensiven Seherfahrung gerät. Wie eingefroren sind die Szenen, deren statischer Aufbau den psychischen Zustand der Familie widerspiegelt und regelrecht belastend wirkt die Monotonie, vor der es kein Entkommen zu geben scheint. Doch nicht nur der experimentelle Aufbau, sondern auch der unausgesprochene Rekurs auf die deutsche Vergangenheit zeugen vom Mut der Filmemacherin. Das Ergebnis ist ein außergewöhnliches Filmdebüt, das noch lange nachhallt.

 

Bewertung

Grauen Rating: 3 von 5
Spannung Rating: 1 von 5
Härte  Rating: 1 von 5
Unterhaltung  Rating: 2 von 5
Anspruch  Rating: 5 von 5
Gesamtwertung Rating: 5 von 5

Bildquelle: Fellwechselzeit © Filmakademie Baden-Württemberg

Horrorfilme… sind die Suche nach Erfahrungen, die man im echten Leben nicht machen möchte. Sie bilden individuelle wie kollektive Ängste ab, zwingen uns zur Auseinandersetzung mit Verdrängtem und kulturell Unerwünschtem – und werden dennoch zur Quelle eines unheimlichen Vergnügens.

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