Pelikanblut
Kritik

Pelikanblut (2019) – Review

Schon in ihrem Debütfilm Tore tanzt bewegte sich Katrin Gebbe fernab ausgetretener Pfade und zeigte, wie kraftvoll, mitreißend und provokant deutschsprachiges Kino sein kann. Auch der Nachfolger Pelikanblut gerät zur Grenzerfahrung – für Hauptfigur und Zuschauer:innen gleichermaßen.

Originaltitel: Pelikanblut – Aus Liebe zu meiner Tochter
Land: Deutschland/Bulgarien
Laufzeit: 121 Minuten
Regie: Katrin Gebbe
Drehbuch: Katrin Gebbe
Cast: Nina Hoss, Yana Marinova, Murathan Muslu u.a.
VÖ: Ab 24.09.2020 im Kino

Inhalt

Wiebke (Nina Hoss, Wir sind die Nacht) betreibt eine idyllische Pferderanch, auf der sie gemeinsam mit ihrer neunjährigen Adoptivtochter Nicolina lebt. Bislang trainiert dort nur die Pferdestaffel der lokalen Polizei, ansonsten führt das Mutter-Tochter-Gespann ein abgeschiedenes Leben und auch die Avancen von Polizist Benedict (Murathan Muslu, Blutgletscher) prallen an der Pferdetrainerin ab. Das Glück scheint perfekt, als Wiebke in einem bulgarischen Kinderheim die fünfjährige Raya entdeckt, einen liebreizenden blonden Engel. Doch das schüchterne Kind erweist sich daheim auf dem Reiterhof bald als schwer traumatisiert, schreit in stundenlangen Tobsuchtsanfällen das Haus zusammen, quält schwächere Kinder, beschmutzt das Badezimmer mit dem eigenen Kot und legt zuletzt sogar Feuer. Trotz der Gefahr, in die Raya sich und andere, darunter ihre Adoptivschwester, bringt, hält Wiebke an dem Kind fest – auch nachdem ein Neurologe ihr bestätigt, dass Raya vermutlich niemals in der Lage sein wird, eine emotionale Bindung zu ihr aufzubauen. Doch Wiebke ist bereit, jedes Opfer zu bringen, um das Mädchen zu heilen.

Kritik

Als erfahrene Pferdetrainerin ist Wiebke den Umgang mit traumatisierten Tieren gewohnt und darum überzeugt, mit Liebe, Aufmerksamkeit und stoischer Geduld auch die unberechenbare Raya heilen zu können. Doch so erfolgreich sie aus verängstigten Gäulen wieder strahlende Traber macht, so erfolglos bleiben ihre Versuche bei der eigenen Adoptivtochter. Ihr Umfeld, darunter auch andere Adoptiveltern, reagiert zunehmend irritiert auf die immer extremeren Bemühungen Wiebkes, die Liebe des Mädchens zu gewinnen – dabei wissen sie nicht mal die Hälfte von dem, was sich hinter den verschlossenen Türen des Reiterhofs abspielt.

Pelican Blood

In das provinzielle Idyll bricht allzu bald der Horror ein, den Gebbe mit viel Gefühl für Spannung und Atmosphäre inszeniert. Obwohl eine psychologische Erklärung für Rayas Verhalten geliefert wird, fällt es schwer sich des Eindrucks zu erwehren, dass man es mit einem besessenen Kind zu tun habe. Das Mädchen schiebt die negativen Gefühle auf ein „Es“, ein schattenhaftes Wesen, das in den Ecken lauere und darauf aus sei, ihrem Umfeld Schaden zuzufügen – wobei es augenscheinlich eine große Kreativität beweist. Sehen kann es nur Raya selbst, möglicherweise handelt es sich dabei um eine Projektion all ihrer negativen Impulse, um sich von den eigenen Schuldgefühlen abzuschirmen. Doch auch, wenn ihr Umfeld das Wesen für reine Fantasie hält, ist die Angst, die Raya in ihnen auslöst, durchaus real.

„Die muss weg, die ist krank!“ lautet darum die einhellige Meinung über das Opfer, das andere Kinder ebenfalls zu Opfern macht. Während die einen in dem traumatisierten Kind vor allem ein unberechenbares Monster sehen, sieht Wiebke mit mütterlicher Nachsicht über das grenzverletzende Verhalten ihrer Tochter hinweg und verkennt den Ernst der Lage. „Sie soll tot sein!“, sagt Raya eines Nachts über ihre Adoptivschwester, als Wiebke sie mit einem Messer in deren Zimmer ertappt, „Und du auch! Ich komme, wenn du schläfst und mache dich tot.“ Wiebke reagiert darauf mit Pragmatismus: Sie schließt die Messer weg.

Pelican Blood

Wie im aktuellen deutschen Erfolgsfilm Systemsprenger steht auch in Pelikanblut ein stark traumatisiertes Kind im Mittelpunkt, das – als Reaktion auf schwere Misshandlungen – die ihm widerfahrene Aggression an Andere weitergibt, keinerlei emotionale Bindung aufbauen kann und sein Umfeld wie sich selbst in Gefahr bringt. Doch Gebbes Film entzieht sich der Realität des Systems der Kinder- und Jugendhilfe, dessen Grenzen Nora Fingscheidts Systemsprenger aufzeigt, und treibt die Passion der Hauptfiguren stattdessen ins Fantastische. Bereits der Titel verweist auf ein Motiv aus der christlichen Ikonographie, einen Pelikan, der seine toten Kinder wiedererweckt, indem er sich mit dem Schnabel die Brust aufhackt und die Kleinen mit dem Blut füttert. Die allegorische Lesart dieses Motivs, das häufig mit dem Opfertod Jesu Christi assoziiert worden ist, passt auch auf den Leidensweg von Mutter Wiebke, die nicht nur ähnlich viel Herzblut investiert, sondern viele kleine und große Opfer bringt, um die emotional „tote“ Raya wieder zum Leben zu erwecken.

Pelikanblut

Mit dem Fanatismus, den sie dabei entwickelt, steht sie der Hauptfigur aus Gebbes Debütfilm Tore tanzt in nichts nach und auch in Pelikanblut setzt die Regisseurin ihrem Publikum wieder Szenen vor, die extrem unangenehm anzusehen sind, weil soziale Grenzen überschritten werden, die unausgesprochene Gültigkeit haben. Es ist kein Zufall, dass Wiebke sich im gleichen Zug auch aus der Gesellschaft, deren Regeln sie übertritt, zurückzieht. Heimlich ordert sie Medikamente aus dem Netz, die Milch in ihre Brust einschießen lassen sollen. Und wenn Wiebke ihre Tochter in einer dunklen Kammer stillt, während sie sich dabei sanft hin- und herwiegt, dann ist das auf eine Art und Weise unangenehm, die Horrorfilme meistens aussparen.

Pelikanblut verschweigt auch die moralische Ambivalenz dieser Mutterfigur nicht. Ob ihr Mut oder ihre Naivität überwiegen, lässt der Film zwar offen, dennoch bleibt ihre aufopferungsvolle Liebe nicht unproblematisch. Wiebke chargiert zwischen Über-Mutter und Unglücksbringerin, die sich in ihrem Ehrgeiz das eigene Scheitern nicht eingestehen will und es darum bis zum Äußersten treibt, obwohl es dem Kind in einer spezialisierten Einrichtung möglicherweise besser gehen würde. Auch Adoptivtochter Nicolina, die vollkommen unschuldig an der Situation ist, muss den Preis mitbezahlen.

Pelikanblut

Kurz vor dem vollständigen Zusammenbruch wendet Wiebke sich schließlich an eine schamanische Geistheilerin und Pelikanblut entkommt dem profanen Realismus endgültig, um ins Übernatürliche einzutauchen. Dieser mystische Exitus mutet im Kontext des bereits erlittenen Leids unfreiwillig komisch an und erscheint auch deshalb problematisch, weil er sich in eine Reihe von Osteuropa-Stereotype fügt, die der Film sich immer dann zunutze macht, wenn eine Prise Exotismus nötig wird. Sei es das dubiose bulgarische Kinderheim, der abergläubische Stallknecht oder die auf seinen Rat engagierte Schamanin, die zur Heilung des Mädchens auf Exorzismen samt abgeschlagener Pferdeköpfe zurückgreift. Abgesehen von diesen Irritationen konfrontiert der Film seine Zuschauer:innen jedoch mit existenziellen Fragen um Mutterschaft, Verantwortung, Schuld und Opferbereitschaft, die selten in dieser Drastik verhandelt worden sind.

Fazit

Pelikanblut ist ein Horror-Drama, das es locker mit Genre-Erfolgen wie Der Babadook oder It Follows aufnehmen kann. Der Film kreist um Fragen von Schuld und Opfer, ohne den Anspruch, diese beantworten zu können – was auch daran liegen mag, dass sie schlichtweg nicht beantwortbar sind. Raya wird zur Bedrohung für sich und ihr Umfeld, doch wer muss geschützt werden und um welchen Preis? Es ist ein Wechselbad der Gefühle, in das Katrin Gebbe die Zuschauer:innen schickt und ratlos zurücklässt. Mit viel Fingerspitzengefühl und einem großartigen Cast verwebt die Regisseurin abermals extreme Grenzüberschreitungen und psychologische Ausnahmesituationen zu aufwühlendem Genre-Kino.

 

Bewertung

Grauen Rating: 4 von 5
Spannung Rating: 4 von 5
Härte  Rating: 3 von 5
Unterhaltung  Rating: 2 von 5
Anspruch  Rating: 5 von 5
Gesamtwertung Rating: 5 von 5

Bildquelle: Pelikanblut © DCM

Horrorfilme… sind die Suche nach Erfahrungen, die man im echten Leben nicht machen möchte. Sie bilden individuelle wie kollektive Ängste ab, zwingen uns zur Auseinandersetzung mit Verdrängtem und kulturell Unerwünschtem – und werden dennoch zur Quelle eines unheimlichen Vergnügens.

...und was meinst du?