Tvar
Kritik

Evil Boy (2019) – Review

Der Klub der bösen Kinder hat einen Neuzugang zu verzeichnen: Im russischen Horrorfilm Evil Boy adoptiert ein Ehepaar ein traumatisiertes Waisenkind und bezahlt dafür schon bald mit der eigenen psychischen (und physischen) Gesundheit. Wir haben einen Abstecher nach Russland gemacht und verraten euch, ob ihr den unheimlichen Jungen auf den heimischen Fernsehbildschirmen willkommen heißen solltet.

Originaltitel: Tvar
Land: Russland
Laufzeit: 90 Minuten
Regie: Olga Gorodetskaya
Drehbuch: Olga Gorodetskaya, Anna Starobinets
Cast: Elena Lyadova, Vladimir Vdovichenkov, Sevastian Bugaev u.a.
VÖ: Ab 16.07.2020 digital und ab 06.08.2020 auf DVD und Blu-ray erhältlich

Inhalt

Vor vier Jahren verschwand der Sohn von Polina (Elena Lyadova, Leviathan) und Igor (Vladimir Vdovichenkov, Paragraf 87) spurlos, woraufhin die trauernden Eltern sich nach einiger Bedenkzeit entschließen, einen Waisenjungen zu adoptieren. Gegen den Willen der Nonne, die das Waisenheim leitet, nehmen die beiden sich eines verwahrlost aussehenden Kindes an, das unter mysteriösen Umständen auftaucht. Anfangs scheint der Familienzuwachs sich gut einzuleben, doch nach und nach beginnt das Kind immer mehr dem verschwundenen Sohn zu gleichen. Während Polina glaubt, ihren verlorenen Jungen wiedergefunden zu haben, bleibt Igor misstrauisch und beginnt Nachforschungen über die Herkunft des Kindes anzustellen. Hatte die Nonne Recht und etwas abgrundtief Böses steckt in diesem Jungen?

Kritik

Horror, der sich in Kindern manifestiert, trifft einen ganz besonderen Nerv. Das Erfolgsrezept der kindlichen Unschuld, die von einer bösen Macht infiltriert wird, wurde hundertfach durchexerziert, seit Der Exorzist damit Anfang der 70er Jahre neben gesellschaftlichem Entrüsten auch für klingelnde Kinokassen gesorgt hatte. Regisseurin Olga Gorodetskaya wagt sich mit ihrem Spielfilmdebüt Evil Boy also keinesfalls in neue Gefilde vor, sorgt aber mit einigen Variationen für frischen Wind im Genre und versucht sich an einer Reflexion über den Umgang mit Trauer und Verlust.

Die kleine Familie muss in Evil Boy einiges an Leid ertragen. Das Verschwinden des Sohns lastet schwer auf den Eltern, zumal sie untereinander mit stummen Schuldzuweisungen zu kämpfen haben. Auch ihr Adoptivsohn, der schwer traumatisiert zu sein scheint, fordert die beiden heraus und sorgt mit immer neuen Zwischenfällen für Spannungen zwischen den Eheleuten. Gerade als der anfangs skeptische Igor Vatergefühle für den Jungen entwickelt, beginnt Polina sich vor ihrem „Wanjuschka“ zu fürchten. Gorodetskaya lässt sich Zeit, um diese Konflikte zu entwickeln und nutzt dabei vor allem die Wohnung der Familie als Projektionsfläche für deren verdrängte Gefühle: Das Unheimliche im Heimischen.

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Vom behaglichen Rückzugsort wird die Wohnung mehr und mehr zum Gefängnis, in dem Polina sich mit dem unheimlichen Jungen eingesperrt fühlt. Dabei ist zunächst sie es, die für Befremden sorgt, indem sie den Neuankömmling in die Sachen ihres verschwundenen Sohnes kleidet, dasselbe Gute-Nacht-Ritual mit ihm nachspielt und ihn zuletzt sogar beim Namen ihres leiblichen Kindes, Wanja, nennt. Als er diese Stellvertreter-Rolle annimmt und sich immer mehr dem Verschwundenen anzupassen scheint, gibt es einen Moment, in dem das Vertraute ins Unheimliche kippt und sie dem Kind gegenüber plötzlich eine unerklärliche Fremdheit empfindet: „Das ist nicht unser Wanja!“ Ihre verdrängte Trauer um den möglicherweise toten Sohn wandelt sich in Furcht vor dem, der dessen Platz einnehmen sollte.

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Als Außenstehende*r bleibt man dem Kind gegenüber lange Zeit ambivalent. Der titelgebende Evil Boy kommt als Kaspar-Hauser-Verschnitt daher, ein traumatisiertes Kind, das in seinem Verhalten eher an ein verängstigtes Tier als an einen Menschen erinnert. Mal möchte man den Jungen, gespielt vom achtjährigen Sevastian Bugaev, selbst in den Arm nehmen, mal meint man, ein dämonisches Blitzen in seinen Zügen zu erkennen.

Im Gegensatz zu vielen anderen Filmen, die um das Motiv des unheimlichen Kindes kreisen, interessiert Evil Boy sich vor allem für die psychischen Prozesse. Vielleicht auch deshalb fühlen sich einige der eingestreuten Horrorelemente etwas unbeholfen und fehl am Platze an. Die Hintergrundgeschichte des Jungen gerät zum wilden Mix, der mithilfe unschöner CGI-Effekte unterfüttert wird, die höchstens aufgrund ihres Windows-95-Charmes eine Gänsehaut hervorrufen und regelmäßig für Risse in der ansonsten dichten Atmosphäre sorgen.  Hier wären ein Hauch mehr Żuławskis Possession oder Polańskis Rosemaries Baby – oder zumindest bessere CGI-Effekte – wünschenswert gewesen, um die sinistren Zwischentöne nicht durch lauten Missklang zu übertönen.

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Fazit

Evil Boy kreist um eine elementare Verlustsituation und den individuellen Umgang damit. Trotz einiger Mängel gelingt Olga Gorodetskaya ein Debüt, das vor allem in seinen ruhigen Momenten für Beklemmung sorgt. Wer Filmen mit psychologischem Tiefgang etwas abgewinnen und den ein oder anderen ästhetischen oder logischen Ausfall gnädig übersehen kann, der ist mit Evil Boy gut beraten.

 

Bewertung

Grauen Rating: 3 von 5
Spannung Rating: 3 von 5
Härte  Rating: 2 von 5
Unterhaltung  Rating: 2 von 5
Anspruch  Rating: 3 von 5
Gesamtwertung Rating: 3 von 5

Ab 06.08.2020 im Handel:

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Bildquelle: Evil Boy © Tiberius Film

Horrorfilme… sind die Suche nach Erfahrungen, die man im echten Leben nicht machen möchte. Sie bilden individuelle wie kollektive Ängste ab, zwingen uns zur Auseinandersetzung mit Verdrängtem und kulturell Unerwünschtem – und werden dennoch zur Quelle eines unheimlichen Vergnügens.

...und was meinst du?