Deutschsprachiger Horror 2010er
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Deutschsprachige Horrorfilme aus den 2010ern – Empfehlungen aus der Redaktion

Heute dreht sich bei uns alles um deutschsprachige Genrefilme der letzten Dekade. Wir haben für euch 8 Horrorfilme aus Deutschland, Österreich und der Schweiz aus den 2010ern ausgegraben.

 

Catherins Empfehlungen

Tore tanzt (2013)

Der heimatlose Punk und „Jesus-Freak“ Tore (Julius Feldmeier, Babylon Berlin) ist aufrichtig entschlossen, seinem göttlichen Vorbild nachzueifern. Im Glauben findet der weltfremde junge Mann einen Sinn und ist fest überzeugt, dass Gott seine Wege leiten wird. Als er Familienvater Benno (Sascha Alexander Geršak, Bad Banks) kennenlernt und von ihm aufgenommen wird, wähnt Tore sich zunächst im Glück. Doch der großherzige Benno entpuppt sich als Tyrann, der seine Familie mit eiserner Hand regiert und im demütigen Tore das perfekte Opfer für seine sadistischen Triebe gefunden hat.

„Verstörend“ ist ein Prädikat, das Horrorfilmen viel zu leichtfertig zugeschrieben wird – zum Langfilmdebüt von Regisseurin Katrin Gebbe (Peilkanblut) jedoch passt es perfekt. Die junge Filmemacherin bewegt sich fernab ausgetretener Pfade und zeigt mit Tore tanzt, wie kraftvoll, mitreißend und provokant deutschsprachiges Kino sein kann.

Tore tanzt verliert sich nicht in Gewaltexzessen und tut dennoch weh. Gerade die Beiläufigkeit, mit der die körperlichen wie seelischen Misshandlungen stattfinden, und ihre unaufgeregte Inszenierung führen an den Rand des Erträglichen. Perfide ist vor allem die Dynamik zwischen Hobby-Sadist Benno und Jesus-Freak Tore, der in dem cholerischen Familienvater seine persönliche Prüfung gefunden zu haben glaubt und den Misshandlungen mit radikaler Liebe begegnet – und mit einer geradezu provokanten Passivität. Ob sein Peiniger genüsslich eine Katze in der Regentonne ersäuft oder ihn verschimmeltes Hähnchen aus dem Müll essen lässt, Tore wehrt sich nicht und stachelt Benno damit zu immer neuen boshaften Fantasien an.

Was als klassisches Sozialdrama zu beginnen scheint, wächst sich nach und nach zu einer modernen Passionsgeschichte aus, die gerade in ihrer Ambivalenz verstört. Tore tanzt ist eine Herausforderung, denn zum körperlichen Unwohlsein gesellt sich ein zwiespältiger Blick auf den Protagonisten, der zwischen mutigem Opfer und religiösem Fanatiker chargiert. Für welche Lesart sie sich entscheiden, bleibt letztlich den Zuschauer*innen überlassen – für Glücksgefühle sorgt aber definitiv keine von beiden.

German Angst (2015)

Die Berlin-Horror-Anthologie German Angst ist eine Zumutung – im bestmöglichen Sinn. In drei Segmenten zeigen die Filmemacher Jörg Buttgereit (Nekromantik), Andreas Marschall (Tears of Kali) und Michael Kosakowski (Zero Killed), dass gerade in den Randbereichen einer Gesellschaft – und hier ist der deutsche Horrorfilm zwangsläufig angesiedelt – eine unbequeme Reflexion über vermeintliche kulturelle (Selbst-)Gewissheiten möglich wird. Dem Stereotyp der deutschen Zurückhaltung, der „German Angst“, erteilt der Episodenfilm eine radikale Absage und wagt sich sowohl in ästhetischer als auch in inhaltlicher und psychologischer Hinsicht weit aus der Komfortzone heraus.

Eine ebenso kluge wie erschütternde Auseinandersetzung mit sexuellem Missbrauch in der Familie findet in Buttgereits „Final Girl“-Episode statt, die mit ihrer bedrückenden Atmosphäre, der sensiblen Figurenzeichnung und einer fesselnden Hauptdarstellerin tief berührt. Trotz des Rape-and-Revenge-Plots und einem dementsprechenden Gore-Anteil, findet die Inszenierung einen ganz eigenen Zugang, der weitaus unbequemer ist als bei so manch anderem Vertreter des Subgenres. Und so hallt die Stimme des titelgebenden Final Girls, die uns aus dem Off an ihren Gedanken teilhaben lässt, noch lange nach dem Ende der Episode nach.

Bequemer wird es auch in Kosakowskis „Make a Wish“ nicht, einer schmerzhaften filmischen Konfrontation mit dem Thema Rassismus und der Verarbeitung eines persönlichen Kindheitstraumas des Regisseurs. Der fantastisch anmutende Plot um einen Körpertausch und die drastischen Folgen wird mit brutalem Realismus umgesetzt; die entfesselte Gewalt ist ebenso grenzenlos wie inkommensurabel – und vor allem: sinnlos.

Mit gotischem Flair und transgressiver Ästhetik setzt Marschalls „Alraune“ einen eindrucksvollen Schlusspunkt, der die Ambivalenz der Erotik in den Mittelpunkt stellt. Eine geheimnisvolle Droge führt zu sexueller Ekstase, doch die in der Grenzüberschreitung freigesetzte Energie offenbart auch ihr zerstörerisches Potenzial. Die Referenzen zum Phantastischen Kino der 1920er Jahre, dem Initialschuss des deutschen Horrorfilms, sind in Marschalls expressionistischer Inszenierung am stärksten zu spüren; zwischen den gleichzeitig lust- wie angstvollen Bildern verliert sich nicht nur die Hauptfigur.

Eindrucksvoll zeigt die German Angst-Anthologie, wieviel Kraft und Kreativität sich im deutschen Untergrund verbergen. Hoffentlich erkennen das in Zukunft auch mehr couragierte Geldgeber*innen an, damit Projekte wie dieses kein erfreuliches Ausnahmephänomen bleiben müssen.

Sennentuntschi (2010)

1975, Schweizer Alpen. Aus einem Besen, Stroh und weiterem Krimskrams basteln drei Sennen sich eine weibliche Puppe, die zur Linderung ihrer Einsamkeit herhalten soll: das „Sennentuntschi“. Doch der Gestalt aus dem schweizerischen Sagenschatz wird nachgesagt, dass sie kurz vor der Alpabfahrt lebendig wird und sich für das ihr widerfahrene Unrecht rächt, indem sie den Sennen die Haut abzieht. Die Legende ist auch im nahegelegenen Bergdorf bekannt, in dem eines Tages eine Frau von wildem Erscheinungsbild (Roxane Mesquida, Sheitan) auftaucht, kurz nachdem der Ort durch den Freitod eines Geistlichen aufgeschreckt wurde. Dorfpolizist Reusch (Nicholas Ofczarek, Der Pass) nimmt sich als Einziger der stummen Fremden an, die von der Alp zu kommen scheint und ahnt dabei nicht, dass manche Geheimnisse besser nie gelüftet werden.

Die skandalumwitterte Alpen-Saga von Regisseur Michael Steiner überführt die alte Schweizer Legende vom „Sennentuntschi“ in einen modernen Mystery-Thriller. Das idyllische Panorama täuscht, denn die schaurige Bergwelt und ihre Bewohner*innen halten einige Geheimnisse verborgen, die im Verlauf der rasanten Inszenierung Stück für Stück freigelegt werden. Sennentuntschi alterniert zwischen zwei Erzählsträngen – der eine zeigt die Geschichte der Männer auf der Alp, während der zweite mit der Ankunft der Frau im Dorf ansetzt – die beide zunehmend eskalieren: Von düsteren Familiengeheimnissen über den gärenden Aberglauben der Dorfgemeinschaft bis hin zu den schrankenlosen Exzessen der Sennen wird allerorts die Gewalt entfesselt.

Trotz urigem Schweizerdeutsch und streckenweise Tatort-Feeling schreckt Sennentuntschi dabei auch vor drastischen Bildern nicht zurück, die ob der Heimatfilmkulisse nur umso unerwarteter kommen. Großen Anteil an der verstörenden Qualität des Films trägt auch Hauptdarstellerin Roxane Mesquida, die beständig zwischen naiver Kindsfrau und animalischer Femme Fatale chargiert. Ob sie ein unschuldiges Opfer oder eine Inkarnation des Bösen ist, bleibt bis zuletzt ambivalent.

Die brachiale Berglandschaft der Schweiz und die regionale Sage vom Sennentuntschi geben den Hintergrund für einen bildgewaltigen, raffiniert inszenierten Mystery-Horror, der temporeiche Unterhaltung und folkloristischen Grusel vereint. Auf in die Alpen!

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Hagazussa (2017)

Unheilvoll dröhnt der Score von MMMD, als die ersten Schriftzüge auf dem Schwarz der Leinwand erscheinen, das schon bald einer kargen Schneelandschaft weicht. Regisseur Lukas Feigelfeld macht ab der ersten Sekunde von Hagazussa klar: Hier ist nichts in Ordnung. Keine heile Welt in den österreichischen Alpen des 15. Jahrhunderts.

Wir lernen die 10-jährige Albrun (Celina Peter) und ihre Mutter Martha (Claudia Martini) kennen, die abseits eines kleinen Dorfes in den spärlich bewohnten Bergen als Ziegenhirtinnen leben. Albruns Mutter gilt als Hexe, wird von den Dorfbewohnern ausgegrenzt und sieht sich regelmäßig Anfeindungen ausgesetzt. Viele Jahre später ereilt Albrun, selbst alleinerziehende Mutter einer kleinen Tochter, dasselbe Schicksal.

Drehbuchautor und Regisseur Lukas Feigelfeld ist sehr daran interessiert, ein authentisches Bild einer alleinerziehenden Frau im Österreich des 15. Jahrhunderts zu zeichnen und geht der Frage nach, wie zu dieser Zeit eine solche Hexenhysterie entstehen konnte.
Wenn Feigelfeld in Hagazussa eine verängstigte Gesellschaft zeigt, die ihre Unsicherheit, ihren Frust und ihren Hass schlussendlich an den Schwächsten und Hilflosesten entlädt, ist sein Film erschreckend aktuell. In einer Szene sinniert eine der Dorfbewohnerinnen über ihre heile Welt; über ihr gutes Plätzchen in den Bergen, wo man sich nicht zu fürchten braucht – vor den Gottlosen, also den Juden und den Heiden. Albrun jedoch ist kein Teil dieser vermeintlich heilen Welt. Sie versteht auch nicht, von welcher dubiosen Gefahr die Rede ist.
Nach dieser Szene zieht ein Gewitter auf und kündigt im Zusammenspiel mit dem dumpf donnernden Score das kommende Unheil an. In den österreichischen Bergen sollte man sich fürchten – aber nicht vor den Gottlosen, den Juden und den Heiden…

Hagazussa brilliert mit einer überaus empathischen Herangehensweise an sein Thema und kann darüber hinaus mit atemberaubenden Aufnahmen von Kamerafrau Mariel Baqueiro sowie einer mitreißenden Performance seiner Hauptdarstellerin überzeugen. Ein erschreckender Film, der seiner ungewöhnlichen Dramaturgie unsere Sehgewohnheiten infrage stellt, sein Publikum fordert und damit eine der besten Horrorproduktionen aus dem deutschsprachigen Raum darstellt – nicht nur aus den 2010ern.

Der Nachtmahr (2015)

Der Nachtmahr ist eine filmische Herzensangelegenheit von Achim „AKIZ“ Bornhak, der das Projekt über etliche Jahre entwickelte und schlussendlich nur außerhalb der Filmförderung, mit zwei mutigen Produzenten und dem Einsatz von Freunden und Familie, auf die Beine stellen konnte. Mit einem Mikro-Budget von 80.000 Euro entstand dadurch ein außergewöhnlicher und fordernder Beitrag, der jegliche verlässlichen Muster der konservativen deutschen Filmförderlandschaft sprengt.

Im Kern erzählt Der Nachtmahr die Geschichte der 17-jährigen Antonia (Carolyn Genzkow, Tatort), die kurz vor ihrem Abitur steht. Ihr Leben ändert sich jedoch drastisch, als nach einem Unfall auf einer Rave-Party ein seltsames Wesen bei ihr zuhause auftaucht. Zuerst stößt sie nur auf Unglauben, doch nach und nach werden nicht nur ihre Eltern eines Besseren belehrt: Auch Antonia merkt, dass zwischen ihr und dem Wesen eine besondere Verbindung besteht.

AKIZ lässt in Der Nachtmahr gekonnt die Grenzen zwischen Realität und Vision, Albtraum und Wahn verschwimmen. Allerdings nicht wie gewohnt, in dem er die Verlässlichkeit der Protagonistin in Frage stellt, sondern gleich die der gesamten Erzählung. An zwei schicksalshaften Momenten lässt uns AKIZ in einer schnellen Schnittmontage in einem Strudel aus Raum und Zeit versinken. Diese Momente löst der Film auch nicht auf.
Der Nachtmahr ist in seiner Erzählweise allgemein eher assoziativ, als dass er einer stringenten Story folgen würde, verliert dabei jedoch nie seine Charaktere aus den Augen. Hier kommt der Film als eine erwachsenere Version von E.T. daher und versteht es gut, das angebliche Monster ins rechte Licht zu rücken, sodass es nicht bedrohlich, sondern vielmehr schutzbedürftig erscheint. Es fällt somit nicht schwer, mit Antonia und dem Nachtmahr mitzufiebern. Ob es jedoch überhaupt eine Realität gibt, in der beide überleben können, bleibt indes fraglich.

Mit dieser einzigartigen Coming-of-Age-Geschichte ist AKIZ ein wahrlich beachtlicher Genre-Beitrag gelungen, dessen Genremix zwar nur sehr wenige Horror-Elemente enthält, dafür aber mit einer besonderen Dosis Monsterliebe und einem bemerkenswerten Creature Design aufwarten kann.

Blue My Mind (2017)

Die 15-jährige Mia ist gerade mit ihren Eltern umgezogen. Sie muss daher nicht nur mit den üblichen Problemen kämpfen, die die Pubertät so mit sich bringt, sondern sich auch noch in ein neues soziales Umfeld einfinden. Nach anfänglichen Schwierigkeiten freundet sie sich mit der „coolen“ Clique rund um Gianna an, die ihre Zeit mit Schulschwänzen, Alkohol, Drogen und Sex verbringt. Mia versucht Anschluss zu finden, hat aber mit körperlichen Veränderungen zu kämpfen, die weit über die Pubertät hinausgehen …

Blue My Mind stellt das Innenleben der 15-Jährigen Mia anhand ihrer Verwandlung zur Meerjungfrau dar. Zusammen mit ihrer ersten Periode bemerkt sie seltsame Veränderungen an ihrem Körper. Die Protagonistin steht vor der unmöglichen Aufgabe, ihren Körper, vor dem sie sich nicht nur ekelt, sondern der sie sogar in Angst und Schrecken versetzt, auch noch der Welt präsentieren zu müssen. Sex wird hier mehr zu einer Pflichtübung, als dass er etwas mit Lust oder gar Liebe zu tun hätte. Geborgenheit findet Mia in ihrer Freundschaft zur Klassenkameradin Gianna, bei der durchaus die Funken fliegen, die aber nie sexualisiert wird. Davon ausgehend nimmt Regisseurin Lisa Brühlmann Mias Verwandlung und deren Einfluss auf ihre Beziehungen unter die Lupe.

Damit gibt Blue My Mind einen wundervoll feinfühligen Einblick in das Leben einer 15-Jährigen. Bei der Inszenierung arbeitet Brühlmann, wie auch schon AKIZ bei Nachtmahr und Julia Ducournau bei Raw, mit einem geschickten Genre-Mix. Nahtlos verbindet sie das zugrunde liegende Coming-of-Age-Drama mit einem Fantasy-Märchen und Body-Horror. Für Hardcore-Horrorfans könnte dies etwas zu wenig sein, da das Drama und die Fantasy-Elemente überwiegen. Wer allerdings Gefallen an oben genannten Filmen findet, kann bedenkenlos zugreifen. Brühlmanns Geschichte über Selbstfindung ist Schweizer Genrekino, wie ich es sehr gern öfter sehen würde.

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Seid gegrüßt, Ich habe unzählige Namen und erscheine in vielen Gestalten. Hier kennt man mich als Dark Forest und ich bin euer Gastgeber. Ich führe euch durch die verwinkelten Bauten, düsteren Wälder und verfallenen Ruinen. Immer mir nach!

...und was meinst du?