The Nightingale
Kritik

The Nightingale (2018) – Review

Die Australierin Jennifer Kent hat durch ihre beeindruckende Darstellung von Trauma, elterlicher Überforderung und Depression in ihrem Spielfilmdebüt Der Babadook für Aufsehen gesorgt und wurde seitdem als eine der großen Hoffnungen des Horrorgenres gehandelt. Vier Jahre zogen ins Land, bis mit The Nightingale nun endlich das langersehnte Zweitwerk seine Premiere feiern durfte.

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Regie:
Drehbuch:
Cast:
VÖ:

The Nightingale
Australien
136 Minuten
Jennifer Kent
Jennifer Kent
Aisling Franciosi, Sam Claflin, Baykali Ganambarr u.a.
Ab 25.06.2020 im Handel

Auch in The Nightingale liegt ein Trauma im Kern der Geschichte – nicht nur jenes der Protagonistin, sondern das einer ganzen Nation. Denn als historische Kulisse dient die Kolonialisierung Australiens und hier insbesondere der Black War, der im 19. Jahrhundert zwischen den tasmanischen Aborigines und den englischen Kolonisatoren tobte und im Völkermord an den Aborigines sein beschämendes Ende fand.
Zu diesem Zeitpunkt war das heutige Tasmanien besetzt und diente den Engländern als Strafkolonie mit dem Namen Van Diemen’s Land. Die meisten Gefangenen waren wegen kleinerer Vergehen dort und blieben nach dem Verbüßen ihrer Strafe häufig in Australien, auf die anderen wartete ohnehin die Todesstrafe.

In The Nightingale ist eine dieser Gefangenen die Irin Clare Carroll, die wegen Diebstahls nach Van Diemen’s Land deportiert wurde. Hier ist sie als Bedienstete dem Lieutenant Hawkins unterstellt, der sich weigert sie freizulassen, obwohl ihre Strafzeit schon lange vorbei wäre. Sie erduldet dies und auch die ständigen Übergriffe in der Hoffnung mit ihrer kleinen Familie bald ein Leben in Freiheit führen zu können. Doch als Hawkins ihr alles nimmt, was sie hat, schwört sie bittere Rache…

Nachdem Hawkins mit einigen Soldaten wegen einer Beförderung nach Norden unterwegs ist, beauftragt Clare den Aborigine Billy, sie zu den Soldaten zu führen. Kent legt in ihrer Exposition alles für eine klassische Rape-Revenge-Story an und geht dann doch gänzlich andere Wege. Denn die Rachegeschichte, die drastischer ihren Anfang kaum nehmen könnte, weicht im Mittelteil einem teils possenhaften Road Movie quer durch die außerirdische Flora Tasmaniens, das die ersten 30 Minuten glatt vergessen lässt. Es ist verstörend, wie man sich selbst dabei erwischt, The Nightingale in manchen Momenten für einen klassischen Abenteuerfilm zu halten. Umso gewaltiger bricht der Spuk des Kolonialismus herein, sobald seine Gespenster beschworen werden – in Form verstümmelter Leichen, schauriger Alpträume und manchmal auch nur als verhallendes Echo im Urzeitwald. In Blicken, Gesten und Worten.
Dabei sind die gezeigte Gewalt und die Grausamkeiten zu keinem Zeitpunkt selbstzweckhaft und dienen nie nur dem Schockeffekt, sondern definieren die Charaktere oder treiben die Story voran. Die Szenen sind auch weitaus weniger explizit und drastisch als in ähnlich gelagerten Filmen, jedoch verleiht ihnen der authentische Kontext einiges an Intensität. So zeichnet Kent ein äußerst grimmiges Sittenbild, das in seiner Drastik keine Gefangenen macht.

The Nightingale

Gerade das Storytelling der Australierin bewegt sich auf allerhöchstem Niveau. Im Gegensatz zu anderen selbsternannten Grenzgängern „erzählt“ Kent mehr, als dass sie sich mit bedeutungsschwangeren Botschaften vorm Publikum wichtigmachen will; nichts hier ist aufgeblasen, nichts überladen. Die unterschiedlichen Machtstrukturen, die The Nightingale offenlegt, müssen hier nicht ausbuchstabiert werden, sondern sind organischer Bestandteil der Geschichte. Die Regisseurin legt besonders großen Wert darauf, die Kultur und Geschichte der Aborigines nicht zum Nebenschauplatz verkommen zu lassen. Um den Aborigines ihre eigene Geschichte nicht aus der Hand zu nehmen, hat sie mit dem tasmanischen Aborigine Jim Everett einen Experten mit an Bord geholt, der eine kulturelle Authentizität gewährleisten soll. Dieser unterstützte sie schon bei der Entwicklung des Drehbuches und später auch beim Casting sowie der Inszenierung kultureller Eigenheiten; so wurde zum Beispiel ein alter tasmanischer Dialekt, Palawa Kani, rekonstruiert, der im Film zwischen den Aborigines gesprochen wird.
Und obwohl die Geschichte aus den Augen der unterdrückten Clare erzählt wird, macht der Film auch deutlich, dass sie ein Teil des Problems ist. Wie die Kolonisatoren will auch sie sich auf einem Stück Land niederlassen, das den Ureinwohnern genommen wurde, begegnet Billy mit rassistischer Herablassung und ist allgemein blind für seine prekäre Lebenssituation. Clare mag als irische Verurteilte kaum Macht besitzen, doch ist dies immer noch mehr als Billy hat – und Kent macht einen herausragenden Job dabei, diese Strukturen zu sezieren. Schade ist nur, dass die Darstellung der Frauen bei den Aborigines dem ansonsten sehr hohen Niveau etwas nachhinkt und über die Charakterisierung des Opfers nicht hinaus kommt.

The Nightingale

Abgesehen von solch kleinen Mankos sind die Charakterzeichnungen in The Nightingale differenziert und glaubhaft. Vor allem die Darstellung der traumatisierten Clare ist überaus authentisch. Schauspielerin Aisling Franciosi (Game of Thrones) spielt Clare sehr facettenreich, so dass sich ihre Darstellung in keiner Sekunde des Films gekünstelt anfühlt. Durch die traumatische Erfahrung entwickelt sie ein duales Weltbild, in dem es nur Täter und Opfer gibt – wer kein Opfer sein will, muss folglich zum Täter werden. Sie repräsentiert jedoch nicht einfach nur das Tough Girl, das wir gerade aus Rape-Revenge-Filmen kennen, sondern verleiht dem Charakter durch ihre inneren Konflikte deutlich mehr Tiefe.
Auch Billy, der nicht nur als Sidekick eingesetzt wird, sondern die Gelegenheit bekommt, seine eigene Geschichte zu erzählen, kann glänzen und wird durch die beeindruckende Performance von Baykali Ganambarr zum Leben erweckt.
Besonders wichtig sind aber vor allem die Kolonisatoren und hier insbesondere Lieutenant Hawkins (Sam Claflin, Die Tribute von Panem – Catching Fire) und sein Sergeant Ruse (Damon Herriman, 100 Bloody Acres), die für mich zwar zu den hassenswertesten Charakteren der letzten Jahre gehören, aber nie zu überhöhten Antagonisten stilisiert werden.
Allgemein umgibt alle Figuren eine seltsame Betäubtheit, egal ob verzweifelt, tatendurstig, gutherzig oder grausam. Niemand scheint im geisterhaften Tasmanien zu finden, was sie suchen. Niemand ist wirklich zu Hause, nicht mehr, oder nie gewesen. Und so taumeln auch die boshaftesten Charaktere mehr durch ihr besatzerisches Ungemach, als dass sie in irgendeinem Moment souverän wirken würden.

The Nightingale

Mit The Nightingale gelingt Jennifer Kent ein mutiger Film, der sich nicht gerade zimperlich mit den Ursprüngen des heutigen Australiens auseinandersetzt. Es ist eine grimmige Erzählung, weniger über persönliche Rache, als darüber, wie neben Land, Besitz und Leib auch Erinnerung, Träume und Bewusstsein der Menschen gewaltsam besetzt werden. Und zwar aller Menschen. [Alexander und Florian]

 

Bewertung

Grauen Rating5_5
Spannung Rating: 3 von 5
Härte  rating4_5
Unterhaltung  rating3_5
Anspruch  Rating: 4 von 5
Gesamtwertung Rating: 5 von 5

Ab 25.06.2020 im Handel:

The Nightingale The Nightingale The Nightingale

Bildquelle: The Nightingale © Koch Films

Seid gegrüßt, Ich habe unzählige Namen und erscheine in vielen Gestalten. Hier kennt man mich als Dark Forest und ich bin euer Gastgeber. Ich führe euch durch die verwinkelten Bauten, düsteren Wälder und verfallenen Ruinen. Immer mir nach!

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