Kritik

Midsommar (2019) – Review

Nach Hereditary entführt uns Ari Aster in Midsommar in die wirren Symbolismen der heidnischen Kommune von Hårga. Ein hypnotischer Trip in die Mechaniken ritualistischer Lebensführung, auf dem die Rolle von Individuum und Gemeinschaft für die Protagonisten neu ausgehandelt wird.

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Regie:
Drehbuch:
Cast:
VÖ:

Midsommar
USA
147Minuten
Ari Aster
Ari Aster
Florence Pugh, Jack Reynor u.a.
Ab 26.09.2019 im Kino

Der folgende Text enthält kleinere Spoiler. Wenn ihr den Film möglichst unvorbereitet sehen wollt, empfehlen wir diesen zuerst zu schauen und danach unsere Review zu lesen.

Inhalt

Die psychisch labile Dani (Florence Pugh) erlebt ein Martyrium, als ihre suizidale Schwester sich selbst und die gemeinsamen Eltern tötet. Das belastet vor allem die Beziehung zu ihrem Freund Christian (Jack Reynor), einem Doktoranden der Anthropologie. Um auf andere Gedanken zu kommen, reist Dani mit Christian und dessen Freunden Josh und Mark nach Schweden, um auf Einladung des Austauschstudenten Pelle eine spektakuläre Mittsommerfeier in dessen Heimat zu erleben. Pelles abgeschiedene Kommune Hårga macht einen paradiesischen, aber auch fremdartig-verstörenden Eindruck, der Konsum psychedelischer Substanzen und rätselhafte heidnische Bräuche scheinen allgegenwärtig.

Während sich die Spannungen innerhalb der Gruppe verschärfen – Josh und Christian konkurrieren um ein Forschungsprojekt, Dani fühlt sich unwohl auf der als Männertrip geplanten Reise – geschieht auch rundherum immer Merkwürdigeres. Die Gemeinde von Hårga zeigt sich überaus herzlich und offen, während andere Besucher verschwinden und die Studenten Zeuge einer zeremoniellen Selbsttötung zweier Greise, einem sogenannten Ättestupa, werden. Gebannt zwischen Angst und Faszination geraten sie zunehmend in einen surrealen Strudel obskuren Ritualismus, in dessen Finale sie eine zentrale Rolle spielen werden…

Existenzialismus und Folk Horror

Wie schon Hereditary, der die Herzen internationaler Genrefans höher schlagen ließ, befasst sich auch Midsommar, der neueste Streich des Autorenfilmers Ari Aster, mit den existenzialistischen Grundmotiven menschlichen Daseins. So beginnen beide Filme mit einem einschneidenden Verlust innerhalb des engen Familienkreises, der das soziale Gefüge ihrer Mitglieder auf den Kopf stellt. Dani sieht sich, ebenso wie die Familie Graham in Hereditary, mit einer umfassenden Orientierungslosigkeit konfrontiert, die sich in traumatischen Zuständen und Zukunftsängsten widerspiegelt, kurzum: Der normale Alltag gerät bereits völlig aus den Fugen, noch bevor der Horror im engeren Sinne richtig losgeht. Und in beiden Fällen ist die soziale Interaktion der Betroffenen – hier die Grahams, dort Dani, Christian und dessen missgünstige Freunde – das, was Ari Aster bis zum Schluss zentral verhandelt.Schnell schlagen beide Filme jedoch getrennte Wege ein. Im Gegensatz zu Hereditary, der seinen zwischen Metapher und realem Spuk chargierenden Horror langsam in die familiären Konflikte seiner Protagonisten einsickern lässt, versuchte Aster sich in Midsommar an einer relativ klaren Prämisse: Als deutliche und bewusste Einreihung ins Folk-Horror-Subgenre, das sich seit den späten 1960er Jahren mit Kultstreifen wie The Wicker Man und Der Hexenjäger etablierte, ist sein grundsätzlicher Handlungsverlauf weitaus vorhersehbarer als beim Vorgänger. Folk Horror zeichnet sich laut Genreexperten Adam Scovell dadurch aus, dass die geographische Abgeschiedenheit bei einer isolierten Gemeinde moralische und religiöse Vorstellungen bedinge, die von der zivilisatorischen Norm weit entfernt lägen. In Literatur und Film laufe dies außerdem oft auf ein zentrales „Happening“ hinaus, in das die Charaktere hineingezogen würden. Konkret läuft dies, auch bei jüngeren Genrevertretern wie Kill List oder The Ritual, oft auf eine gewaltsame Opferung hinaus.

Anziehung, Abstoßung und Bildgewalt

Dass den jungen Studenten im heidnischen Treiben Hårgas etwas Fürchterliches widerfahren wird, ist also von vornherein klar. Wo der entstehende Spielraum – schließlich muss auf Handlungsebene nicht mehr viel erklärt werden – von anderen Filmen mit blutrünstiger Exploitation (Hexen bis aufs Blut gequält), depressivem Nihilismus (Kill List) oder schlicht verkopftem Unsinn (Apostle) gefüllt wird, interessieren Aster vor allem die Perspektiven seiner Figuren. Dani fühlt sich, wenn auch irritiert, magisch von der familiären Atmosphäre der Kommune angezogen, die in ihrem herzlichen Umgang alles darstellt, was ihr Leben als Waise vermissen lässt. Die betäubende Orientierungslosigkeit des Verlustes trifft hier auf ein Utopia, in dem die Verpflichtungen und gesellschaftlichen Erwartungshaltungen des zivilisatorischen Alltags keine Rolle spielen. Hårga scheint geeint, im Schrecken wie im Glück.

Auch die Anthropologiestudenten Christian und Josh lässt diese Faszination nicht aus. Im Bestreben, ihre Forschungsarbeiten über die heidnische Gemeinde zu verfassen, überwiegen auch bei ihnen Neugier und Attraktion über Furcht und Argwohn. Die Bildsprache des Films spiegelt dies wider: In Sachen Gewalt inszeniert Aster mitnichten mit der Kneifzange, Ättestupa und spätere Gewaltszenen sind sparsam eingesetzt, aber überaus blutig. Der aufkeimende Verdacht ob des nahenden Verhängnisses geht Hand in Hand mit gleißend sonnigen Momenten paradiesischer Idylle. Auch die dargestellte Rauschwirkung der oft präsenten Psychedelika schwankt beständig zwischen Horrortrip und Genuss. Deren schwammige Computeranimationen sind optisch wohl leider der größte Kritikpunkt am Film, die physische Ausstattung hingegen ist durchgehend atemberaubend. Kostüme, übrigens eher osteuropäischer als skandinavischer Tradition entsprechend, Bauten und Szenenbild verraten eine Liebe zum Detail, die ihresgleichen sucht. Vor allem die zahllosen Wandmalereien im Naiven Stil tragen maßgeblich zu den verstörenden Untertönen bei, die in Hårga stets mitschwingen.

Ritualismus und Psychologie

Das Ritual ist der Moment, in dem Glaube und die praktische Betätigung des Menschen ganz und gar eins sind. Nicht nur aufgrund dieser Sonderstellung ist es seit jeher einer der liebsten Spielplätze ethnologischer, soziologischer und religionswissenschaftlicher Betätigungen – so auch für Christian und Josh. Die kollektive Ekstase der Gemeinschaft im rituellen Kontext übt eine Wirkmacht aus, die den Zusammenhalt ebenso wie die gemeinsame Weltanschauung festigt. Die zahlreichen rituellen Abläufe in Hårga – neben den Ritualen im engeren Sinne auch der Ablauf des gesamten, in spezielle Abschnitte geteilten und mit dem sogenannten Ättestupa endenden Lebens – sind es, die die Gemeinde strukturieren. Das Individuum tritt weitgehend hinter das Kollektiv zurück, persönliche Probleme wie jene Danis spielen nur eine geringe Rolle. Besonders deutlich wird dies in den Klageszenen, in denen die ganze Gruppe – beim Ättestupa gemeinsam mit einem der Greise, später zusammen mit Dani – die Einzelperson durch gemeinsames Wehgeschrei entlastet. Auf diese Weise leidet niemand alleine, ebenso wie niemand sein Glück alleine empfindet. In seinen ausdrucksstärksten Momenten erinnert Midsommar in diesen Szenen an eine moderne Hochglanz-Version von Pier Pasolinis Medea, der ebenso eindrucksvoll thematisiert, wie Rituale das gesamte Dasein bestimmen.Das Individuum geht im Kollektiv auf. Unabhängig von Existenz oder Fehlen übernatürlicher Mächte, zu denen der Film keine Stellung bezieht, funktionieren die Rituale in Hårga. Und so erlebt Dani eine aufwühlende Reise durch die Höhen und Tiefen ihrer eigenen Psyche, um sich dieser schließlich weitgehend zu entledigen. Kann Florence Pugh hier auch nicht mit der Schauspielleistung Toni Colettes aus Hereditary mithalten, die ihr ganz eigenes Trauma durchlebt – sie muss es nicht, bei Midsommar geht es nicht um eine derartig akteurszentrierte Perspektive. Tiefgreifende Psychologisierung und dichte Charakterdarstellung weichen einem multiperspektivischen Kaleidoskop, für das die Figuren mehrheitlich nur ihre Sinnesapparate zur Verfügung stellen.

Midsommar präsentiert diese Traumreise meisterlich, denn Aster hat seine Hausaufgaben gemacht. Sorgsam legt er die verschiedenen Dimensionen der Ekstase, des Mystizismus und der rituellen Erfüllung vor, um sie am Ende wieder zusammenzufügen – die Katharsis der Figuren erlebt auch der Zuschauer. Die Frage, ob und inwiefern die heidnischen Rituale Hårgas tatsächlichen vorchristlichen Praktiken entsprechen führt ins Leere, Midsommar ist kein Geschichtsunterricht, sondern eine Versuchsanordnung, welche die große Frage der Beziehung von Individuum und Gemeinschaft verhandelt.

Fazit

Entpuppt sich der Psychoterror Hereditarys schlussendlich als konkreter, von außen auf die Menschen einwirkender dämonischer Einfluss, hinterfragt Midsommar den Stellenwert individueller Psyche an sich. Die starken Figuren und Schauspieler – obwohl letztere auch hier ihre Sache alle gut machen – hat er nicht, braucht er aber auch nicht. Obwohl Asters Handschrift sich in diversen Ähnlichkeiten beider Filme niedergeschlagen hat, funktioniert Midsommar völlig anders. Und mindestens genauso clever.

Ari Asters aktuelle Produktion pulsiert nur so vor den verschiedensten Einflüssen, die vor allem eines ausstrahlen: Ambivalenz. So schrecklich die Geschehnisse in Hårga auch sein mögen, eine klare Positionierung bleibt, wie schon im Folk-Horror-Urgestein The Wicker Man, aus. Paradies und Hölle scheinen manchmal nahe beieinander, und es bleibt zu überlegen, ob sich nicht auch die moderne Gesellschaft auf ihren ganz eigenen Opfern gründet.

Bewertung

Grauen Rating: 4 von 5
Spannung Rating: 3 von 5
Härte  Rating: 3 von 5
Unterhaltung  Rating: 4 von 5
Anspruch  Rating: 4 von 5
Gesamtwertung Rating: 5 von 5

Bildquelle: Midsommar © Weltkino

Horrorfilme… sind die audiovisuelle Adaption des gesellschaftlich Abgestoßenen, Verdrängten und/oder Unerwünschten, das in der einen oder anderen Gestalt immer wieder einen Weg zurückfindet.

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