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Kritik

Wir (2019) – Review

Jordan Peele konfrontiert uns in Wir mit uns selbst. Mit unseren eigenen Schatten. Ein Doppelgänger-Horror, den ihr nicht verpassen solltet.

Originaltitel:
Land:
Laufzeit:
Regie:
Drehbuch:
Cast:
VÖ:

US
USA/Japan
116 Minuten
Jordan Peele
Jordan Peele
Lupita Nyong’o, Winston Duke, Elisabeth Moss u.a.
Derzeit im Kino

Inhalt

1986. Die Bevölkerung der USA bildet bei „Hands Across America“ eine menschliche Kette aus über sechs Millionen Menschen, um Geld für von Armut und Obdachlosigkeit betroffene Menschen zu sammeln, die Dreharbeiten zu Lost Boys finden gerade in Santa Cruz statt und eben dort vergnügt sich die junge Adelaide mit ihren Eltern im Freizeitpark an der Promenade. In einem Moment der elterlichen Unaufmerksamkeit verschwindet das kleine Mädchen. Vorbei an einem augenscheinlich Obdachlosen, der ein Schild mit der Aufschrift „Jeremiah 11:11“ trägt, findet sich Adelaide in einem verlassenen Spiegelkabinett am Strand wieder. Als plötzlich das Licht ausfällt, irrt sie ängstlich durch die Gänge auf der verzweifelten Suche nach dem Ausgang – und findet sich selbst. Oder besser gesagt, findet sie eine Doppelgängerin, die ihr bis aufs Haar gleicht.
Gut 30 Jahre später macht sich Adelaide mit ihrem Mann Gabe und ihren zwei Kindern Zora und Jason auf den Weg in ihr Ferienhaus am See unweit von Santa Cruz. Obwohl es ihr widerstrebt, lässt sie sich von Gabe dazu überreden an den Strand von Santa Cruz zu fahren. Es mehren sich jedoch seltsame Zufälle und Adelaide wird zunehmend fahriger. Am Abend erzählt sie Gabe zum ersten Mal von ihrem traumatischen Erlebnis als Kind und dass sie sich seitdem von ihrem kindlichen Ebenbild verfolgt fühlt. Das Gespräch wird jäh unterbrochen als plötzlich eine fremde Familie in der Auffahrt steht. Doch die Familie ist nicht so fremd, wie es zunächst den Anschein macht, denn es sind die Ebenbilder von Adelaide, Gabe, Zora und Jason…

Kritik

Zwei Jahre nach seinem oscarprämierten Sensationshit Get Out ist Jordan Peele zurück und bleibt mit Wir dem Horrorgenre treu. Mit dem Erfolgswind im Rücken und voller kreativer Freiheit geht er mit seinem zweiten Spielfilm alles andere als auf Nummer Sicher, sondern sogar noch einmal wesentlich ambitionierter ans Werk. Mit allerlei Verweisen und einer Mythologie rund um schief gelaufene Regierungsexperimente versucht sich der Regisseur und Drehbuchautor bei seinem neuesten Film an einem komplexeren Aufbau.
So zieht er schon mit dem 1986 spielenden Intro rund um „Hands Across America“ einen Bogen bis heute und legt uns damit sogleich das Interpretationswerkzeug an die Hand. Wobei Wir auf einer inhaltlichen Ebene nicht viele Fragen offen lässt. Peele hat es auch gar nicht nötig sein Publikum mit Verwirrtaktiken abzulenken. Ein Puzzleteil fügt sich an das nächste bis wir das Big Picture erkennen können. Geschickt hält uns der Film nah am Geschehen in dem er Brotkrumen gleich nur eine Handvoll Fragen aufwirft, einen Teil davon beantwortet und uns aus dem neuen Wissen wie aus dem noch Unbekannten immer wieder neue spannende Fragen entwickeln lässt. So kann man die Welt von Wir Stück für Stück erkunden, ohne Gefahr zu laufen, die Übersicht zu verlieren.
Diesem Muster entspricht auch die dramaturgische Strukturierung des Films, die uns mit jedem Ortswechsel wieder etwas Neues über die Mythologie des Films offenbart. Dadurch vergeht der fast zweistündige Film wie im Flug.
Allerdings muss ich an dieser Stelle auch sagen, dass gerade das angesprochene Regierungsexperiment durchaus einige Fragen offen lässt, die sich nicht immer schlüssig erklären lassen. Ein kleiner Makel in der ansonsten gut durchdachten Geschichte.

Wir

Abgesehen von der stark aufgebauten Dramaturgie kann Wir auch mit seiner Inszenierung glänzen. Peele setzt auf viele unterschiedliche Horrorelemente und weiß diese geschickt in Szene zu setzen. Allein schon in den ersten Bildern des Freizeitparks in Santa Cruz schafft der Regisseur eine außergewöhnlich bedrohliche Atmosphäre, die im Spiegelkabinett ihren Höhepunkt findet. Beim später folgenden Home-Invasion-Teil stürzt sich Peele nicht etwa sofort in wilde Verfolgungsjagden, sondern lässt die zwei Familien erst einmal auf der Couch Platz nehmen und den Schrecken sich ganz langsam entfalten, bis er sich auch dem letzten Zuschauer tief in die Brust gefressen hat.
Die Brillanz dieser Sequenz ist vor allem auch dem herausragenden Cast zuzuschreiben. Insbesondere Lupita Nyong’o (12 Years A Slave) als Adelaide liefert eine Performance ab, die ihresgleichen sucht. Aber auch die weiteren Familienmitglieder, gespielt von Winston Duke (Black Panther), Shahadi Wright Joseph und Evan Alex, machen einen außerordentlichen Job. Ganz besonders gut gefallen hat mir jedoch Madison Curry, welche die junge Adelaide verkörpert, und teilweise einen Blick aufsetzte, der mir das Blut in den Adern gefrieren ließ. Für Curry war Us ihr Schauspieldebüt, was für ihr Talent, aber auch für Peeles hervorragende Schauspielerführung spricht. Bei der toll aufspielenden Besetzung ist es von besonderem Genuss, sie zudem in jeweils zwei sehr unterschiedlichen und gleichzeitig so ähnlichen Rollen sehen zu dürfen. Hier auch mein Kompliment an Make-Up und Kostüme, die viel dazu beitragen, den DoppelgängerInnen eigenes Leben einzuhauchen.

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All das wird von Kameramann Mike Gioulakis hautnah eingefangen, der seinen Protagonisten immer dicht auf den Fersen bleibt und wie schon bei It Follows bestechende Bildkompositionen auf Zelluloid bannt. Beeindruckend auch der Schnitt von Nicholas Monsour, der geschickt mit dem Doppelgänger-Motiv arbeitet und die zwei unterschiedlichen Welten nahtlos miteinander verknüpft.
Zudem kommt noch ein umwerfender Soundtrack von Michael Abels (Get Out) hinzu – „Good Vibrations“ von den Beach Boys war nie gruseliger als hier und schafft es gleichzeitig die Stimmung auf groteske Art aufzulockern. Wie schon in Get Out gelingt es Peele hervorragend immer wieder Humor in den Film einzustreuen, ohne die bedrohliche Stimmung zu gefährden. Gerade in Bezug auf Timing macht sich seine langjährige Erfahrung als Comedian hier definitiv bezahlt.

Allein handwerklich ist Wir somit schon einmal ein wundervolles Sehvergnügen, doch in dem Streifen steckt noch wesentlich mehr. Denn wie Peele sich schon in Get Out subversiv an Rassismus und kultureller Aneignung abarbeitete, lässt er sich auch dieses mal nicht nehmen den Film mit einem gesellschaftspolitischen Subtext zu versehen. Wie schon zu Beginn angedeutet, hält der Regisseur mit seinen Intentionen nicht hinterm Berg. Gerade mit „Hands for America“ wird auf eine von der Gesellschaft ausgeschlossene Personengruppe verwiesen, die wir im Film als DoppelgängerInnen wiederfinden. Auf die Frage „was sie sind“ antwortet Adelaides Doppelgängerin mit „Wir sind Amerikaner“ und auch der Sohn der Familie erkennt schnell: „Sie sind wir.“ Hier zeigt sich eine Doppeldeutigkeit im Originaltitel des Films mit Us (=Wir) und US (=United States). Diese Metapher erinnerte mich unweigerlich an George A. Romeros Dawn of the Dead, bei dem die Zombies eine ähnliche Rolle einnehmen. Peele spricht hier jedoch nicht nur die Abgehängten unserer Gesellschaft an, sondern gibt durch einen Twist auch zu verstehen, dass wir alle durch einen unglücklichen Zufall dort landen könnten und, wahrscheinlich noch viel wichtiger, eben nicht von Natur aus so sind, wie wir eben sind, sondern unser Umfeld, die Gesellschaft, uns dazu macht.

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Zudem wird uns ganz prominent der Bibelvers Jeremiah 11:11 ins Gesicht gehalten, der das Doppelgänger-Motiv bereits im Vers trägt. Vereinfacht runtergebrochen geht es darin um Ignoranz. Gott beschwert sich darüber, dass die Menschen immer wieder die gleichen Verfehlungen begehen. Und so sehen wir es auch heutzutage wieder: Die Probleme, die Ahnungslosigkeit und die Rattenfänger bleiben – nur die Sündenböcke ändern sich.
Bei diesem kurzen Anriss möchte ich es an dieser Stelle jedoch belassen, aber gehe bei Interesse gerne noch näher auf mögliche Interpretationen ein. Andererseits interessieren mich aber auch immer eure Sichtweisen und Analysen.

Fazit

Abseits von all den gesellschaftspolitischen Meta-Ebenen bleibt Wir vor allem eines: verdammt unterhaltsam. Jordan Peele verliert sich nicht in seiner Botschaft, sondern verwebt sie geschickt mit der Geschichte. Wir ist jedenfalls einer der spannendsten und innovativsten Horrorfilme der letzten Jahre und kann mit einer atemberaubenden Performance von Lupita Nyong’o aufwarten. Damit ist der Streifen schon jetzt eines der ganz großen Highlights des Jahres.

 

Bewertung

Spannung Rating: 4 von 5
Atmosphäre Rating: 5 von 5
Gewalt  Rating: 2 von 5
Ekel  Rating: 0 von 5
Story  Rating: 5 von 5

Bildquelle: Wir © Universal Pictures International

Horrorfilme sind für mich ein Tor zu den unheimlichen, verstaubten Dachböden und finsteren, schmutzigen Kellern der menschlichen Seele. Hier trifft man alles von der Gesellschaft abgeschobene, unerwünschte, geächtete, begrabene: Tod, Schmerz, Angst, Verlust, Gewalt, Fetische, Obsession. Es ist eine Entdeckungsreise auf die "Schutthalde der Zivilisation". Auf diese Reise würde ich euch gerne mitnehmen.

...und was meinst du?