November
Kritik

November (2017) – Review

November ist ein düsteres Fantasy-Liebesdrama, ein Okkult-Märchen aus Estland, welches man sich nicht entgehen lassen sollte.

Originaltitel:
Land:
Laufzeit:
Regie:
Drehbuch:
Vorlage:

November
Estland, Polen, Niederlande
115 Minuten
Rainer Sarnet
Rainer Sarnet
Roman „Rehepapp ehk November“ von Andrus Kivirähk

Eine Wölfin trinkt am morastigen Ufer eines kleinen Sees von dem eisigen Wasser, läuft dann weiter, um sich erst im Schnee zu wälzen und schließlich davon zu ziehen. Ein abrupter Bildwechsel folgt, auf eine junge, schlafende Frau. Ein dritter Bildwechsel, panoramaartig, auf ein von kahlen Bäumen umsäumtes Herrenhaus auf einem großen Landgut. Plötzlich dreht sich ein seltsames Ding, aus Metallstangen, Rohren, Schnüren, Messern und einer Axt, fast wie eine riesige Schere wirkend, mit dem Schädel einer Kuh ins Bild. Es nimmt seinen Weg zu einem Gehöft. Dort schlägt es eine Stalltür ein und dringt in den Stall ein. Die darin eingesperrte Kuh ist verwirrt, aber neugierig. So nähert sie sich dem Ding, schnuppert – und eine metallene Kette schlingt sich ihr um Brust und Hals. Daran wird sie gewaltsam von diesem Ding aus dem Stall geschliffen. Es rotiert voraus – und erhebt sich samt der Kuh in die Lüfte. Nach einer Bruchlandung, bei der es den Schädel verliert, befinden sich beide vor einer kärglichen Hütte, aus der ein alter Bauer tritt. Dieser beugt sich liebevoll über das Tier, küsst es innig, nimmt sich den Schädel, zieht die Kuh ein paar Schritte hinter sich her – und wird von ihr umgerissen. Er erhebt sich wieder – und wird fast von dem Ding erschlagen. Von dem Krach herausgelockt treten ein heranwachsendes Mädchen und ein junger Mann aus der Hütte; sie befreit ihn aus der Umklammerung. Daraufhin fordert das Ding: „Gib mir Arbeit!“, und spuckt dem Bauern ins Gesicht.
„Geh, mach eine Leiter aus Brot!“, antwortet der und tritt es.
„Was ist mit ihm?“, fragt die junge Frau irritiert, während es ohne Kopf davonkriecht.
„Ich weiß nicht. Vielleicht liegt es am Regen. Verdammt, ich habe meine besten Arbeitsmaterialien in das Ding gesteckt.“
Neugierig gehen der Bauer und das Mädchen dem Ding hinterher, um es zu beobachten. Es starrt ebenso kopflos wie verständnislos abwechselnd, dabei immer wilder, von einem Stück Brot auf eine Leiter, die auf den Heuboden führt – und explodiert.
„So wunderschön, wie die Weihnachtsbäume in der Kirche.“, spricht das Mädchen staunend, während die Einzelteile des Dings brennend herabfallen.

Dies sind die ersten sechs Minuten von November, einer im Herzen estnischen Produktion. Wem das jetzt zu viel oder zu eigenartig war, der sollte genau hier aufhören zu lesen. Denn… es wird nur noch eigenartiger. Wer dem stellenweise schon sehr bizarren Film jedoch eine Chance gibt, wird mit teilweise traumhaften Bildern einer für die meisten wohl völlig fremden Welt belohnt. Es sind nicht nur die ersten sechs Minuten, sondern sie stehen stellvertretend für den gesamten Film.

Die junge Frau heißt Liina – und ist eine Werwölfin. Der Name des jungen Mannes lautet Hans. Liina ist in Hans verliebt, der jedoch nur Augen für die Tochter des hiesigen Gutsbesitzers hat. Der ist ein deutscher Baron und wird von den meisten Anwohnern wie auch seinen Dienern ebenso gehasst wie verachtet – und sogar bestohlen. Dazu dienen der estnischen Bevölkerung dann auch solche Geschöpfe wie das beschriebene Ding. Das nennt sich »Kratt«. »Kratts« sind in der estnischen Mythologie Hausgeister, die ihren Meistern permanent Aufgaben erfüllen – und wehe, wenn sie nicht beschäftigt werden. Allerdings bedeutet eine unlösbare Aufgabe auch das Ende dieser Kreatur. Diese Geschöpfe werden von ihren Gebietern aus Hausrat, einem Schädel, manchmal auch Schnee und anderen Utensilien gefertigt. Allerdings sind Kratts nicht nur hilfreiche Diener, sondern auch ein Pakt – zwischen ihren Gebietern und dem Teufel, besiegelt mit Blut. Gemäß dem Motto „Machst du einen Kratt, kriegt der Teufel abschließend deine Seele“ – oder du betrügst den Teufel und nimmst anstatt des Blutes schwarze Johannisbeeren. Wichtig ist nicht, ob du betrügst oder stiehlst, wichtig ist, dass du den kalten, harten Winter überstehst. Dabei gehören mythologische Dinge wie Kratts und der Teufel oder auch die Seelen der Verstorbenen wie selbstverständlich zum Leben der Bevölkerung. Ebenso normal wie der Umgang mit der althergebrachten, „heidnischen“ Religion ist der Umgang mit der christlichen Religion, aber der ist vielleicht auch eher spielerisch, wie schon der Kommentar des Mädchens verrät. Da wird dann schon mal der durchgekaute „Leib Christi“ nach der Messe wieder ausgespuckt und für Kugeln wiederverwertet, damit diese zielsicher werden. Der Film besitzt eine gute Portion Humor. Aber wie gesagt, er ist eigenartig, um nicht zu sagen völlig bizarr.

November
Jörgen Liik als Hans

So bizarr muss wohl auch die Romanvorlage „Rehepapp ehk November“ von Andrus Kivirähk sein, ein Bestseller in Estland. Rainer Sarnet schrieb das Drehbuch und inszenierte diesen Film. Jedoch ist es vor allem aufgrund der sich teilweise auflösenden Erzählstruktur nicht einfach, wenn überhaupt möglich, der kompletten Handlung zu folgen. Das mag der Vorlage geschuldet sein, die als unverfilmbar gilt. Grundsätzlich sind Romanverfilmungen kompliziert umzusetzen und je komplexer die Vorlage ist, desto schwieriger wird es, diese zu verfilmen.Vielleicht liegt es auch an dem niedrigen Budget der estnisch-niederländisch-polnischen Co-Produktion; deutsche Filmfördergremien lehnten eine Finanzierung ab. Möglicherweise sollte man den Roman kennen und Verständnis für die estnische Kultur und Mythologie mitbringen, um besser zu begreifen, was vor sich geht. Oder man lässt sich schlicht auf die wunderschönen Schwarz-Weiß-Bilder ein, die den Film zu einem – wenn auch schwer fassbaren – visuellen Erlebnis machen und denkt über den Rest nicht weiter nach. Vor allem den Kameramann muss man für seine Arbeit loben. Der Film hat eine sagenhafte, dreckig-harte bis mystische Atmosphäre. Für diese Stärken lohnt es sich, den Film zu sehen.

November
Dieter Laser als der Baron

Viele der Schauspieler sind wenig erfahren oder sogar völlig unerfahren, was man gelegentlich merkt. Dafür sind die Rollen aber typgerecht besetzt. Wobei gerade Rea Lest als starker weiblicher Charakter Liina und Dieter Laser in seiner kleinen Rolle als deutscher Baron herausragen. Allerdings hätte ich mir bei Dieter Laser einen etwas größeren Part gewünscht. Er braucht – und hat – nicht viele Worte, um seinem Charakter Leben einzuhauchen; er schafft es, den Baron durch seine Mimik lebendig werden zu lassen. Der Preisträger des Deutschen Filmpreises spielt seine Rolle immerhin mit der Routine von fünfzig Jahren Film- und Theatererfahrung. In einem Exklusiv-Interview verriet er uns, wie er zu der Rolle kam und wie er die Dreharbeiten fand.

Ein fantastischer Film, irgendwo zwischen Okkult-Märchen und Fantasy-Liebesdrama. Ein Werk, das sicherlich nicht jedem gefällt und zu der Sorte Film gehört, die man entweder verständnisvoll liebt oder kopfschüttelnd verachtet, auf jeden Fall aber nicht so schnell vergisst.

 

Bewertung

Spannung Rating: 3 von 5
Atmosphäre Rating: 4 von 5
Gewalt  Rating: 1 von 5
Ekel  Rating: 0 von 5
Story  Rating: 4 von 5

Bildquelle: November © Homeless Bob Production

Horrorfilme sind eines der Genres des Films, den ich in seiner Gesamtheit seit meiner frühesten Kindheit und der ersten Begegnung mit den Kreaturen des Ray Harryhausen fast schon abgöttisch liebe. Im Horrorfilm taucht der Zuschauer nicht nur bis zu den Abgründen der menschlichen Seele, sondern häufig weitaus tiefer.

...und was meinst du?